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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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In unmittelbarer Umgebung wogte dagegen ein anderes Meer, eine fruchtbare Landschaft, die aus der Vogelperspektive wie ein grünes zerknautschtes Bettlaken aussah. Zwischen den bewaldeten Hügeln gab es vereinzelte kleine Gehöfte. Weizen-, Spinat- und Artischockenfelder, Olivenbaumhaine und Weingärten überzogen das grüne Laken mit einem bunten Karomuster. Und mittendrin schlummerte Silencia.
    Auf dem höchsten Punkt des Stadtberges stand eine jahrhundertealte Burg. Bis vor kurzem war sie nur eine Ruine gewesen. Düstere Überlieferungen rankten sich um diese Zitadelle. Aber in dem Gewirr von Gassen und Plätzen darunter war alles licht und warm, was nicht nur an der Sonne lag, die Silencia großzügig verwöhnte, sondern auch an den Menschen, die hier lebten. Sie redeten gern, fast ohne Unterlass und meistens ziemlich schnell. Es erscheint durchaus angemessen, sie als Plaudertaschen zu bezeichnen. Ihre braunen und ockerfarbenen Häuser dienten ihnen hauptsächlich als Schlafstätten. Die übrige Zeit sprachen sie miteinander und meistens unter freiem Himmel.
    Zu den beliebtesten Treffpunkten von Silencia gehörte der Platz der Dichter. Schon früh am Morgen konnte man hier auf dem Markt brandheiße Neuigkeiten austauschen und nebenbei sogar einkaufen. Später am Tag, wenn die Sonne heiß vom Himmel brannte, flüchtete man sich lieber auf die Bänke unter den Pinien, die wie große grüne Schirme ihre kühlen Schatten über die Piazza warfen. Für ein kurzes Schwätzchen hatte man fast immer Zeit. Man sprach über dies und das, Oberflächliches und Tiefgründiges, Gott und die Welt. Am Rande sei bemerkt: Es wurde in Silencia auch gearbeitet. Der Broterwerb galt jedoch als Mittel zum Leben, keinesfalls als sein Zweck, weswegen unsere umherflatternden Polizisten davon wohl kaum Notiz genommen hätten. Eher schon dürften ihre Aufmerksamkeit die beunruhigenden Geschehnisse geweckt haben, die sich in der Stadt anbahnten.
    Da gab es ja diese gewaltige Festungsruine, die über der Stadt schwebte wie eine Krone, aus der mehr als nur ein Zacken gebrochen war. Seit einiger Zeit gehörte die Burg einem vermögenden Sohn Silencias, der, wie es hieß, nach langen Jahren in der Fremde an seinen Geburtsort zurückgekehrt sei und das alte Gemäuer nun wieder instand setzte. Von hier aus wolle er schon bald sein riesiges Firmenreich regieren, ließen seine Direktoren nicht allzu selten verlauten. Die Stadtväter hörten es mit Wohlwollen. Merkwürdig war nur die Art und Weise, wie sich die Burg erneuerte. Von unten aus der Stadt konnte man schlechterdings nicht erkennen, was dort oben fehlte, nämlich Maurer, Zimmerleute und sonstige Handwerker. Niemand turnte auf Gerüsten, keiner stemmte Steine und trotzdem machte die Wiederherstellung der Festung immer schnellere Fortschritte.
    Da Schlösser gemeinhin nicht aus Hefeteig bestehen, sollte dieses eigenwillige »Aufgehen« der Zitadelle einem wachsamen Polizisten auf Kontrollflug nicht entgangen sein. Und beim Überflattern der Straßen und Plätze Silencias hätte einem solchen auch die sich dort ausbreitende Stille auffallen müssen. Zugegeben, diese letzte Veränderung ging nur sehr langsam vonstatten. Aber was nützt es, sich über die Fluguntauglichkeit von Ordnungshütern zu beklagen? Polizisten sind nun mal keine Engel und Engel keine Polizisten. Welche besonderen Gaben, ja was für eine außergewöhnliche Person hätte überhaupt noch verhindern können, was sich da lautlos wie eine dunkle Gewitterwolke über der Stadt und ihren Bewohnern zusammenbraute? Die Antwort lautet, keine. Oder sagen wir, höchstens eine.
    Und daher musste wohl alles so geschehen, wie Pala es erlebt hatte.
    Pala besaß langes, krauses, schwarzes Haar und strahlend blaue Augen. Für ihr Alter war sie entschieden zu groß. Sie überragte sämtliche Kinder ihrer Schulklasse, auch Pasquale, der ihr nur bis zur Schulter reichte. Überdies war sie auch die Dünnste in weitem Umkreis, was Pasquale als ausgleichende Gerechtigkeit empfand – wenigstens auf der Waage war er ihr ebenbürtig. Pala machte dafür seine »Gefräßigkeit« verantwortlich, Pasquale dagegen seinen »schweren Knochenbau«. Solange sie ihren Freund kannte, war er noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen. Das mochte am Mundwerk seines Vaters liegen – der Begriff »Handwerk« galt in Silencia als unzutreffend, wenn jemand wie Pasquales Vater Gebrauchsdichter war, ein einfacher, aber in der Stadt der Dichter und Denker durchaus
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