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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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widerspenstiges Haar über die Schulter nach vorn, ohne dabei auch nur für eine Sekunde ihre Augen von seinem zerfurchten Antlitz zu nehmen; nicht die kleinste Veränderung in seinem mal traurigen, dann wieder heiteren Mienenspiel wollte sie verpassen. Nonno Gaspare könne ohne ein Wort, nur mit Gesicht und Händen, eine Geschichte erzählen – jederzeit hätte Pala dies beschworen.
    Bis zu jenem schrecklichen Tag im Frühling.
     
     
    Bei flüchtiger Betrachtung hatte die Welt am Morgen nicht anders ausgesehen als sonst. Alles schien seinen gewohnten Verlauf zu nehmen. Pala schnellte aus dem Bett, als ihre kleine Schwester sich mit frisch gefüllter Windel auf ihr Gesicht fallen ließ. Beim Frühstück besprach die Familie, wortkarg zwar, aber ansonsten wie gewohnt, den Tagesablauf. Nina verschüttete ihre Milch. Auf dem Weg zur Schule trug Pasquale einen seiner fürchterlichen Reime vor. Pala machte ihn mit zwei oder drei Musterbeispielen silencianischer Dichtkunst vertraut, die in der Stadt fast jede Hauswand zierten, und forderte ihn anschließend taktvoll auf, geduldig weiterzuüben. Hiernach erging sich die Lehrerin in der Schule wieder einmal über das Wunder der menschlichen Sprache, verlor dabei merkwürdigerweise einige Male den Faden, rettete sich dann aber irgendwie doch über die Runden. Später, auf dem Heimweg, übte sich Pasquale in der praktischen Anwendung des Gelernten und machte Pala einen überraschend einfallslosen Heiratsantrag. Sie lehnte wie immer ab, verlangte von ihm zehn Jahre Geduld und verabschiedete sich. Da es an diesem Tag keine Hausaufgaben zu erledigen gab, trennte sie nun allein das Mittagessen von ihrem geliebten Nonno Gaspare.
    Weil Palas Vater seinen Mechanikerberuf in einer nahen Autowerkstatt ausübte, wurde die Mittagsmahlzeit gewöhnlich im Kreis der ganzen Familie eingenommen. Darauf legte er großen Wert. So ließen sich die Freuden, aber auch etwaige Niederlagen des Morgens teilen und man konnte mit neuem Schwung in die zweite Tageshälfte gehen. Aus Problemchen wurden dank dieser Familientradition selten Probleme. Jeder fühlte sich dem anderen nah und Schwierigkeiten konnten in der Regel lange vor Sonnenuntergang aus der Welt geräumt werden. Kleinigkeiten wurden sofort abgeklärt.
    »Pala, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst deinen Schulranzen nicht neben der Eingangstür liegen lassen?« Mutters Stimme trug ungemein gut. Man konnte sie bis in den letzten Winkel der Parterrewohnung hören.
    »Kann ich nicht sagen«, erwiderte Pala wahrheitsgemäß aus einem Zimmer, das von der Küche meilenweit entfernt zu sein schien.
    »Dann räume ihn bitte weg, und zwar gleich!«
    »Sofort, Mama.«
    »Wo steckst du eigentlich?«
    Eine helle Erscheinung – cremefarbenes Sommerkleid, blaue Blümchen – huschte an der Küchentür vorüber. Es rumpelte. Kurz darauf tauchte Pala wieder in der Tür auf, diesmal stehend. Der Ranzen baumelte ihr lässig über der linken Schulter. »Bin schon da, Mama.«
    »Du warst schon wieder in der Abstellkammer, stimmt’s?«
    »Woher…?« Pala fühlte sich ertappt. Das Zimmer hatte früher ihrer Großmutter gehört, bis sie vor zwei Jahren gestorben war. Anschließend wurde es für Pala zu einer Art Sperrbezirk erklärt, zu einem verbotenen Reich, dessen Erforschung ihr dadurch umso lohnenswerter erschien.
    Normalerweise folgte nun eine Standpauke der Mutter. Aus unerfindlichen Gründen schien ihr dafür an diesem Mittag jedoch die nötige Schwungkraft zu fehlen. Sich wieder ihrem Kochtopf zuwendend, sagte sie nur: »Die Staubflocke an deinem Kleid – sie hat dich verraten. Du weißt, wie ich darüber denke, wenn du in dem Schmutz herumstöberst.«
    »Wegen der Pappkartons mit den alten Unterlagen, meinst du?«
    Der Mutter rutschte der Kochlöffel aus der Hand und sie sah Pala erschrocken an. »Du hast doch nicht…?«
    »Sie durcheinander gebracht?« Pala schüttelte den Kopf und lachte. »Keine Sorge. Da waren nur vergilbte Papiere drin. Ich habe nach der Zigarrenkiste gesucht, du weißt schon, die mit den alten Fotos aus der Zeit, als ich noch so eine Stinkbombe war wie Nina.«
    Ein fröhliches Kreischen ertönte vom Tisch her, wo Palas Schwester auf einem Kinderstuhl saß und sich mit dem Verbiegen ihres Löffels beschäftigte.
    Die Mutter entspannte sich wieder, schnappte sich den Holzlöffel und rührte weiter. »Und wozu brauchst du die Bilder?«
    »Nach dem Essen besuche ich Nonno Gaspare.«
    »Na, das ist ja mal was
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