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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Kindergesichtern staunend vor der Toten standen. Sie warf ihnen nicht vor, dass sie so gafften. Niemanden konnte dieses Bild unbeeindruckt lassen, und genau das machte Ann Kathrin Angst. Dieses Bild durfte niemals in der Presse erscheinen.
    Die Beine der Frau waren weit gespreizt, doch nicht wie bei dem Opfer eines Sexualverbrechens, sondern eher wie bei einer Eiskunstläuferin, die elfenhafte Sprünge vollzieht, um die Jury zu beeindrucken.
    Ein Arm der Toten war weit ausgestreckt und zeigte auf die Sonne. Der ganze Körper schien sich auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, den er anstrebte: einen Punkt hoch oben, unerreichbar über den Wolken.
    »Sie sieht aus«, sagte Weller, »als wollte sie in die Baumkronen dahinten springen.«
    Ann Kathrin nickte. »Ruf Abel. Ich will hier jeden Zentimeter fotografiert haben. Die Gesamtsituation. Er soll auch weit weggehen, dass wir ja alles haben. Wie eine Landkarte. Der Täter will uns irgendwas sagen.«
    Für einen Moment glaubte Weller, auf irgendeinen blöden Trick hereinzufallen. Vielleicht war das hier so eine ähnliche Sendung wie »Vorsicht, Kamera!«. Deshalb hatte sie auch der ZDF -Typ gerufen. Legten die neuerdings Kripoleute rein? Das Gelände war groß und unübersichtlich genug, um hier jede Menge Kameras zu installieren. Würde sich die angebliche
Leiche gleich bewegen und zu lachen beginnen, so wie diese menschlichen Skulpturen am Hauptbahnhof Hannover?
    »Seid ihr überhaupt sicher, dass die tot ist?«, fragte Weller die anwesenden Beamten.
    »Du hast sie dir noch nicht von hinten angesehen«, sagte Paul Schrader.
    Ann Kathrin kam näher und erkannte mit Schaudern, dass die Fußnägel der Toten in den gleichen Farben angemalt waren wie die Rhododendron- und Azaleenblüten, zwischen denen sie zu schweben schien.
    Inzwischen war Weller hinter der Leiche und verstand, warum Abel seinen Beruf aufgeben wollte. Die Tote war mit gut einem Dutzend Stahlstangen aufgespießt worden, um sie in diese Lage zu bringen und so zu halten. In ihrem Kopf, in ihrem Rücken, ihren Ellbogen und Knien, überall steckten diese silbernen Lanzen.
    Weller drehte sich um und schlug mit der Faust nach Rhododendronblüten, als seien die daran schuld.
    Jetzt kam Ann Kathrin. »Ich glaube, das willst du gar nicht sehen«, sagte er und versuchte sie davon abzuhalten, doch sie schob ihn zur Seite und antwortete: »Niemand will so etwas sehen. Aber es ist unser Beruf.«
    Seitdem die beiden ein Verhältnis miteinander hatten, wollte er sie dauernd beschützen. Einerseits rührte Ann Kathrin dies, andererseits hatte sie Angst, dass er sie vor Kollegen damit lächerlich machte.
    Sie musste sich sofort eingestehen, so etwas wirklich noch nie gesehen zu haben. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wurde ihr nicht schlecht, sondern sie begann die Situation kalt einzuscannen und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen. Fotos würden das hier nicht richtig wiedergeben können, fürchtete sie.
    »Staatsanwalt Scherer müsste längst hier sein«, sagte sie. »Ich will, dass er das hier sieht.«
    Weller sagte: »Ich fürchte, wir können sie hier nicht lange so hängen lassen, Ann … «
    »Der Park muss natürlich für Besucher gesperrt werden«, betonte Ann Kathrin, »aber wir können sie leider nicht so bald da runterholen. Wir brauchen Spezialisten. Hier können Tausende Spuren sein, die wir nicht sehen. Genmaterial und … «
    Für die vielen Speere im Rücken der Leiche entdeckte Ann Kathrin Klaasen merkwürdig wenig Blut. Der ganze Tatort kam ihr auf eine bestürzende Art klinisch sauber vor.
    »Wer immer das gewesen war«, folgerte Weller, »erstens hatte er Bärenkräfte oder ein paar Gehilfen, und zweitens hatte er endlos viel Zeit.«
    Ann Kathrin gab ihm recht: »Ja, der Täter war bestimmt nicht in Eile. Er hat sich Zeit fürs Detail gelassen. Er wollte sie uns genau so präsentieren. Das war ihm wichtig. Und dabei hat er nichts dem Zufall überlassen. Selbst das Sonnenlicht spielt mit in seiner Inszenierung.«
    »Du meinst«, fragte Weller, »bei Regen wäre das Ganze ins Wasser gefallen?« Er fasste sich an die Stirn. »Ein Täter, der erst den Wetterbericht abhört und den Mord nur am Vorabend eines sonnigen Tages begeht, damit die Wolken das ästhetische Erlebnis der Polizei nicht stören, wenn sie die Leiche findet?«
    »Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht«, sagte Ann Kathrin Klaasen. »Aber er hat einen Plan. Für ihn ist kein Aufwand zu hoch, um den Plan zu verfolgen.«
    Ann
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