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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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gemacht, das uns helfen sollte, dir unsere Stimmen zu schicken.«
    Hüte dich vor der Kunst, pflegte Crake zu sagen. Sobald sie anfangen, Kunst zu machen, haben wir ein Problem. Symbolisches Denken egal welcher Art war gleichbedeutend mit dem Niedergang, davon war Crake überzeugt. Als Nächstes würden sie Götzen erfinden und Bestattungen and Grabbeigaben und das Leben nach dem Tod und Sünde und die kretische Silbenschrift und Könige und dann die Sklaverei und den Krieg. Schneemensch würde sie gern ausfragen – wer als Erster die Idee hatte, ein grobes Abbild von ihm, Schneemensch, aus einem Eimerdeckel und einem Mopp zu machen? Aber das wird warten müssen.
    »Schaut mal! Schneemensch hat Blumen an!« (Das kommt von den Kindern, die seinen neuen geblümten Sarong erblickt haben.)
    »Können wir auch Blumen anhaben?«
    »War sie schwierig, deine Reise in den Himmel?«
    »Auch Blumen, auch Blumen!«
    »Welche Botschaft schickt uns Crake?«
    »Wieso glaubt ihr, dass ich im Himmel war?«, fragt Schneemensch so unbestimmt wie möglich. Er geht im Kopf seinen Legendenordner durch. Wann hat er denn je den Himmel erwähnt? Hat er ihnen irgendeine Fabel erzählt, wo Crake hergekommen ist? Jawohl, jetzt erinnert er sich. Er hatte Crake mit den Attributen von Donner und Blitz ausgestattet. Natürlich nehmen sie an, dass Crake zurück ins Reich der Wolken gegangen sein muss.
    »Wir wissen, das Crake im Himmel wohnt. Und wir haben den wirbelnden Wind gesehen – er ist in dieselbe Richtung gezogen wie du.«
    »Crake hat ihn dir geschickt – um dir zu helfen, dich vom Boden zu erheben.«
    »Jetzt, da du im Himmel gewesen bist, bist du fast wie Crake.«
    Am besten widerspricht man ihnen nicht, aber er kann sie nicht in dem Glauben lassen, er könne fliegen: Früher oder später könnten sie von ihm erwarten, dass er es ihnen vormacht. »Der Wirbelwind war dazu da, damit Crake vom Himmel herunterkommen konnte«, sagt er. »Er ließ sich von dem Wind heruntertragen. Er hat beschlossen, nicht dort oben zu bleiben, weil die Sonne zu heiß war. Ich hab ihn da oben nicht gesehen.«
    »Wo ist er?«
    »Er ist in der Kuppel«, sagt Schneemensch, durchaus wahrheitsgemäß.
    »Der Ort, woher wir gekommen sind. Er ist in Paradice.«
    »Kommt, da gehen wir jetzt hin und besuchen ihn«, sagt eines der größeren Kinder. »Wir wissen, wie man dahin kommt. Wir können uns erinnern.«
    »Ihr könnt ihn nicht besuchen«, sagt Schneemensch etwas zu streng.
    »Ihr würdet ihn nicht erkennen. Er hat sich in eine Pflanze verwandelt.«
    Wo kam das denn jetzt her? Er ist sehr müde, hat sich kaum noch im Griff.
    »Warum sollte sich Crake in Nahrung verwandeln?«, fragt Abraham Lincoln.
    »Es ist keine Pflanze, die man essen kann«, sagt Schneemensch. »Es ist eher wie ein Baum.«
    Einige verwirrte Blicke. »Er spricht mit dir. Wie kann er sprechen, wenn er ein Baum ist?«
    Das wird schwer zu erklären sein. Er hat einen erzähltechnischen Fehler begangen. Er hat das Gefühl, das er oben auf einem Treppenabsatz das Gleichgewicht verloren hat.
    Er sucht panisch nach Halt. »Es ist ein Baum mit einem Mund«, sagt er.
    »Bäume haben keine Münder«, sagt eines der Kinder.
    »Aber seht«, sagt eine Frau – Madame Curie, Sacajawea?
    »Schneemensch hat sich am Fuß wehgetan.« Die Frauen spüren immer, wenn ihm unbehaglich ist; sie versuchen, es ihm leichter zu machen, indem sie das Thema wechseln. »Wir müssen ihm helfen.«
    »Kommt, wir holen ihm einen Fisch. Würdest du jetzt gern einen Fisch essen, Schneemensch? Wir bitten Oryx, uns einen Fisch zu schenken, damit er für dich stirbt.«
    »Das wäre gut«, sagt er mit Erleichterung.
    »Oryx möchte, dass du gesund bist.«
    Bald darauf liegt er auf der Erde, und sie schnurren über ihm. Der Schmerz lässt nach, aber obwohl sie sich große Mühe geben, geht die Schwellung nicht ganz zurück.
    »Es muss ein tiefer Schmerz gewesen sein.«
    »Es braucht noch mehr.«

    »Wir versuchen es nachher noch mal.«
    Sie bringen den Fisch, inzwischen gekocht und in Blätter gewickelt, und schauen ihm erfreut beim Essen zu. Er hat gar nicht besonders viel Hunger – das macht das Fieber –, aber er gibt sich alle Mühe, weil er ihnen keine Angst einjagen will.
    Die Kinder zerstören bereits das Bild, das sie von ihm gemacht haben, zerlegen es wieder in seine Einzelteile, die sie zurück zum Strand bringen wollen. Das ist etwas, was Oryx ihnen beigebracht hat, sagen ihm die Frauen: Nachdem etwas benutzt worden
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