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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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ein, so viel er tragen kann – die restlichen Lebensmittel, getrocknet und in Dosen, Taschenlampe und Batterien, Landkarten und Streichhölzer, Munition, Klebeband, zwei Flaschen Wasser, Schmerztabletten, antibiotisches Gel, zwei sonnenresistente Tropenhemden, und eines dieser kleinen Taschenmesser mit Schere. Und natürlich die Energiepistole. Er nimmt seinen Stock und geht durch die Luftschleuse hinaus, wobei er Crakes Blick ausweicht, Crakes Grinsen; und Oryx in ihrem seidenen Schmetterlingsschleier. Oh Jimmy. Das bin ich nicht!
    Vogelgesang setzt ein. Das Licht vor Morgengrauen ist federgrau, die Luft dunstig; Tau perlt in den Spinnweben. Wenn er ein Kind wäre, würde er neu und frisch erscheinen, dieser uralte magische Effekt. So aber weiß er, dass es eine Illusion ist: Sobald die Sonne am Himmel steht, wird das alles verschwinden. Als er das Gelände halb durchquert hat, wirft er einen letzten Blick zurück auf Paradice, das sich über dem Laub erhebt wie ein verlorener Luftballon.
    Er hat eine Landkarte des Komplexes, er hat sie sich bereits angeschaut, seine Route festgelegt. Er kreuzt die Hauptstraße zum Golfplatz und überquert sie ohne Zwischenfall. Sein Gepäck und die Pistole beginnen ihn zu drücken, also hält er an, um etwas zu trinken.
    Die Sonne ist inzwischen aufgegangen, die Geier kreisen im Aufwind; sie haben ihn entdeckt, sie werden sein Hinken bemerken, sie werden ihn im Auge behalten.
    Er geht durch eine Wohngegend, dann über das Gelände einer Schule.
    Er muss ein Organschwein erschießen, bevor er die Außenmauer erreicht: Es hat ihn zwar nur angestarrt, aber er war sich sicher, dass es sich um einen Späher handelte, es hätte die anderen benachrichtigt. Am Seitentor hält er inne. Hier gibt es einen Wachturm und einen Zugang zum Schutzwall; er würde gerne hochsteigen, sich umschauen, nach dem Rauch Ausschau halten, den er gesehen hat. Aber die Tür zum Torhaus ist abgeschlossen, also setzt er seinen Weg nach draußen fort.
    Nichts im Wallgraben.

    Er geht durch das Niemandsland, etwas nervös: Immer wieder glaubt er aus den Augenwinkeln Bewegungen, Fell zu sehen, Unkrautbüschel scheinen plötzlich ihre Form zu verändern. Endlich erreicht er Plebsland, er wandert durch die engen gewundenen Straßen, immer wachsam, aber er wird nicht gejagt. Nur die Geier kreisen oben, warten, dass er zu Fleisch wird.
    Eine Stunde vor Mittag klettert er auf einen Baum, verbirgt sich im Schatten der Blätter. Dort verzehrt er eine Dose SoyO-Boy-Würstchen und leert die erste Flasche Wasser. Sobald er ruht, meldet sich sein Fuß: Er spürt ein regelmäßiges Pochen, der Fuß fühlt sich heiß und eng an, so als ob er in einen zu kleinen Schuh gezwängt wäre. Er reibt etwas antibiotisches Gel in die Schnittwunde, aber ohne große Zuversicht: Die Mikroben, die ihn verseuchen, haben zweifellos schon ihre Widerstandslinie aufgebaut und köcheln da drinnen vor sich hin, verwandeln sein Fleisch in Brei.
    Er sucht den Horizont von seinem arborealen Aussichtspunkt ab, aber er kann nichts erkennen, das wie Rauch aussieht. Arboreal, ein schönes Wort. Unsere arborealen Vorfahren, hatte Crake immer gesagt. Haben auf ihre Feinde runtergeschissen, während sie auf Bäumen hockten. Alle Flugzeuge und Raketen und Bomben sind schlicht die Ausarbeitung dieses Primateninstinkts.
    Was, wenn ich hier oben sterbe, in diesem Baum?, denkt er. Geschähe mir das recht? Warum? Wer würde mich denn je finden? Und wenn schon? Oh guck mal, noch ein toter Mann. Ist ja verdammt aufregend.
    Hier wimmelt’s doch von Toten. Ja, aber der hier sitzt im Baum. Na und?
    »Ich bin nicht nur irgendein toter Mann«, sagt er laut.
    Natürlich nicht! Jeder von uns ist einzigartig! Und jede tote Person ist auf ihre ganz eigene Art tot! So, wer von uns möchte denn jetzt mal vom Totsein erzählen, in seinen eigenen Worten? Jimmy, du scheinst was sagen zu wollen, also warum fangen wir nicht einfach mit dir an?
    Ah, was für eine Qual. Ist dies das Fegefeuer, und wenn es das ist, warum ähnelt es so der ersten Klasse?
    Nach zwei Stunden unruhiger Rast zieht er weiter, verkriecht sich vor dem Nachmittagssturm in den Resten eines Apartmenthauses in Plebsland. Niemand da, weder tot noch lebendig. Dann setzt er seinen Weg fort, humpel-humpel, geht ein bisschen schneller, Richtung Süden und dann nach Osten, auf die Küste zu.

    Es ist eine Erleichterung, als er den Fischpfad erreicht. Anstatt sich nach links zu wenden, auf seinen Baum zu, humpelt er
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