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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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dem Rasieren nachlässig gewesen, es erschien ihm sinnlos, daher hatte er einen Bartansatz.
    »Ja. Das sehen wir. Aber was sind Federn?«
    Ach ja, sie hatten noch nie welche gesehen. »Einige der Kinder von Oryx haben Federn«, sagte er. »Diese Art nennt man Vögel. Wir gehen da hin, wo es die gibt. Dann wisst ihr über Federn Bescheid.«
    Schneemensch wunderte sich über sein eigenes Geschick: Er tanzte elegant um die Wahrheit herum, leichten Fußes, leichter Hand. Aber es war fast zu einfach: Sie nahmen fraglos alles an, was er sagte. Mehr davon – ganze Tage, ganze Wochen davon – und er konnte sich schon vor Langeweile schreien hören. Ich könnte sie verlassen, dachte er. Sie einfach verlassen. Sie sich selbst überlassen. Sie gehen mich nichts an.
    Aber das konnte er nicht, denn auch, wenn die Craker ihn nichts angingen, er war für sie verantwortlich. Wen hatten sie denn sonst noch?
    Wen hatte er denn noch, so gesehen?

    Schneemensch plante die Route im Voraus. Crakes Vorratslager war gut mit Landkarten ausgestattet. Er hatte vor, Crakes Kinder zur Küste zu bringen, wo er selbst noch nie gewesen war. Es war etwas, auf das er sich freuen konnte: Er würde endlich das Meer sehen. Er würde den Strand entlanggehen wie in den Geschichten, die ihm die Erwachsenen erzählt hatten, als er klein war. Vielleicht würde er sogar schwimmen gehen können. Das wäre gar nicht so schlecht.
    Die Craker konnten in dem Park in der Nähe eines Baumgartens leben, der auf der Karte grün eingezeichnet und mit einem Baumsymbol versehen war. Sie würden sich dort wie zu Hause fühlen, und es würde auf jeden Fall viel essbares Laub geben. Was ihn selbst anging, so konnte er sicherlich Fisch essen. Er suchte ein paar Vorräte zusammen –
    nicht zu viel, nicht zu schwer, er würde es alles tragen müssen – und lud seine Energiepistole mit einem vollen Magazin virtueller Patronen.
    Am Abend vor dem Abmarsch hielt er eine Ansprache. Auf dem Weg zu dem neuen, besseren Ort würde er vorangehen – sagte er – mit zweien der Männer. Er suchte sich die Größten aus. Hinter ihnen würden die Frauen und Kinder kommen, auf beiden Seiten flankiert von einer Reihe von Männern. Die restlichen Männer würden hinten gehen.
    Sie müssten das so machen, weil Crake gesagt hatte, dies sei die richtige Art. (Am besten war es wohl, die möglichen Gefahren nicht zu erwähnen: Das würde zu viele Erklärungen erfordern.) Falls die Craker irgendetwas sahen, das sich bewegte – ganz egal was, in welcher Gestalt oder Form auch immer –, mussten sie es ihm sofort sagen. Manche der Dinge, die sie vielleicht sehen würden, würden verwirrend sein, aber sie sollten sich nicht erschrecken. Wenn sie ihm rechtzeitig Bescheid sagten, würden ihnen diese Dinge nicht wehtun können.
    »Warum sollten sie uns wehtun?«, fragte Sojourner Truth.
    »Sie könnten euch aus Versehen wehtun«, sagte Schneemensch. »So wie euch die Erde wehtut, wenn ihr hinfallt.«
    »Aber es ist nicht der Wunsch der Erde, uns wehzutun.«
    »Oryx hat uns gesagt, dass die Erde unser Freund ist.«
    »Auf ihr wächst unsere Nahrung.«
    »Ja«, sagte Schneemensch. »Aber Crake hat die Erde hart gemacht.
    Sonst könnten wir nicht darauf gehen.«
    Sie brauchten eine Minute, bis sie es durchgedacht hatten. Dann gab es viel Kopfnicken. Schneemensch drehte sich der Kopf; die Widersinnigkeit dessen, was er gerade gesagt hatte, verblüffte ihn. Aber es schien die gewünschte Wirkung gehabt zu haben.

    Im Licht der Morgendämmerung gab er zum letzten Mal die Türkombination ein und öffnete die Kuppel und führte die Craker aus Paradice hinaus. Sie bemerkten die Überreste von Crake am Boden, aber da sie Crake nie gesehen hatten, als er noch am Leben war, glaubten sie Schneemensch, als er ihnen sagte, dies sei etwas ohne jede Bedeutung –
    nur eine Art Schale, eine Hülle. Es wäre ein Schock für sie gewesen, ihren Schöpfer in seinem gegenwärtigen Zustand zu sehen.
    Was Oryx betraf, so lag sie mit dem Gesicht nach unten und in Seide eingewickelt. Sie konnten sie nicht erkennen.
    Die Bäume um die Kuppel waren saftig und grün, alles erschien unbeschädigt, aber als sie den eigentlichen RejoovenEsense-Komplex erreichten, waren die Spuren von Verwüstung und Tod überall sichtbar.
    Umgestürzte Golfkarren, durchweichte, unleserliche Ausdrucke, Computer, deren Innenleben herausgerissen worden war. Schutt, wehender Stoff, zernagtes Aas. Zerbrochenes Spielzeug. Die Geier waren noch immer bei
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