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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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sich umzubringen – es schien ihm nichts anderes übrig zu bleiben –, aber irgendwie brachte er nicht die nötige Energie auf. Sich umzubringen war ohnehin etwas, was man für ein Publikum tat, so wie auf geruhsamenacht.com.
    Unter den gegenwärtigen Umständen war es eine Geste, der die Eleganz abging. Er konnte sich Crakes belustigte Verachtung vorstellen und Oryx’ Enttäuschung: Aber Jimmy! Warum gibst du auf? Du musst doch deine Aufgabe erfüllen! Du hast es versprochen, schon vergessen?
    Vielleicht gelang es ihm nicht, seine eigene Verzweiflung ernst zu nehmen.

    Schließlich gab es nichts mehr anzuschauen, außer alten Filmen auf DVD. Er sah sich Humphrey Bogart und Edward G. Robinson in Key Largo an: Er will mehr, nicht wahr, Rocco? Ja, genau, mehr! Das stimmt, ich will mehr. Wirst du jemals genug kriegen? Oder er schaute sich Alfred Hitchcocks Die Vögel an. Flapflapflap, iek, kreisch. Man konnte die Fäden sehen, wo die gefiederten Superstars ans Dach gebunden waren. Oder er schaute sich Nacht der lebenden Toten an.
    Nein, arrgh, knabber, würg, gurgel. Diese kleinen Angstzustände wirkten beruhigend auf ihn.
    Dann schaltete er ab, saß vor dem leeren Bildschirm. Er ließ alle Frauen, die er je gekannt hatte, im Halbdunkel vor seinen Augen Revue passieren. Auch seine Mutter, in ihrem magentafarbenen Morgenmantel, wieder jung. Zuletzt kam Oryx, mit weißen Blumen im Arm. Sie blickte ihn an, dann ging sie langsam aus seinem Blickfeld, in die Schatten, wo Crake wartete.
    Diese Momente der Andacht waren beinahe angenehm. Solange sie andauerten, waren wenigstens noch alle am Leben.

    Er wusste, dass dieser Zustand nicht viel länger andauern konnte. Im eigentlichen Paradice mampften die Craker die Blätter und Gräser schneller, als sie sich regenerieren konnten, und bald würde das Solarsystem ausfallen, und das Notstromaggregat würde auch ausfallen, und Jimmy hatte keine Ahnung, wie man solche Sachen reparierte.
    Dann würde die Luftzirkulation aufhören, und das Türschloss würde einrasten, und sowohl er als auch die Craker würden in der Falle sitzen, und sie würden alle ersticken. Er musste sie herausbringen, solange noch Zeit war, aber auch nicht zu früh, oder es würde noch ein paar verzweifelte Leute da draußen geben, und verzweifelt würde gefährlich bedeuten. Was er vermeiden wollte, war ein Haufen todgeweihter Irrer, die auf die Knie fielen und sich an ihn krallten: Heile uns! Heile uns! Er mochte zwar immun gegen das Virus sein – außer natürlich, Crake hatte ihn belogen –, aber nicht gegen die Wut und Verzweiflung seiner Träger.
    Außerdem, wie sollte er es übers Herz bringen, da zu stehen und zu sagen: Nichts kann euch retten!

    Im Halbdunkel, in der feuchten Luft wandert Schneemensch von einem Raum zum anderen. Hier beispielweise ist sein Büro. Sein Computer steht auf dem Schreibtisch, wendet ihm ein leeres Gesicht zu wie eine abgelegte Freundin, die man zufällig auf einer Party trifft. Neben seinem Computer liegen ein paar Blatt Papier, die die letzten sein müssen, die er je geschrieben hatte. Die letzten, die er je schreiben würde. Er hebt sie voller Neugier auf. Was mag es sein, das der Jimmy, der er einmal gewesen war, zu kommunizieren oder wenigstens festzuhalten beabsichtigte – schwarz auf weiß niederzuschreiben, etwas verschmiert
    – zur Erbauung einer Welt, die nicht mehr existierte?
    An alle, die es angeht, hatte Jimmy geschrieben, mit Kuli anstatt als Ausdruck: Sein Computer war zu dem Zeitpunkt schon durchgebrannt, aber er hatte weitergemacht, mühsam, mit der Hand. Er muss immer noch Hoffnung gehabt haben, er muss immer noch geglaubt haben, dass sich die Situation umkehren ließe, dass irgendjemand hier in der Zukunft auftauchen würde, jemand, der Autorität besaß; dass seine Worte dann Bedeutung haben würden, einen Zusammenhang. Wie Crake einmal gesagt hatte: Jimmy war ein romantischer Optimist.
    Ich habe nicht viel Zeit, hatte Jimmy geschrieben.
    Kein schlechter Anfang, denkt Schneemensch.
    Ich habe nicht viel Zeit, aber ich will versuchen aufzuschreiben, was ich für die Erklärung der vor kurzem eingetretenen außerordentlichen Ereignisse Katastrophe halte. Ich habe den Computer des Mannes, den man hier als Crake kennt, untersucht. Er hat ihn angeschaltet hinterlassen – absichtlich, wie ich glaube –, und ich kann nachweisen, dass das JUVE-Virus hier in der Paradice-Kuppel von Genforschern hergestellt wurde, die Crake selbst ausgesucht und
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