Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
ihrem Geschäft.
    »Bitte, o Schneemensch, was ist das?«
    Das ist eine Leiche, was glaubst du denn? »Das ist ein Teil des Chaos«, sagte Schneemensch. »Crake und Oryx räumen das Chaos weg, für euch – weil sie euch lieben –, aber sie sind noch nicht ganz fertig damit.« Diese Antwort schien sie zufrieden zu stellen.
    »Das Chaos riecht sehr schlecht«, sagte eines der älteren Kinder.
    »Ja«, sagte Schneemensch mit etwas, was als ein Lächeln gedacht war.
    »Chaos riecht immer schlecht.«
    Fünf Blocks vom Haupttor des Komplexes entfernt, wankte ein Mann aus einer Seitenstraße auf sie zu. Er befand sich im vorletzten Stadium der Krankheit: Blutschweiß stand ihm auf der Stirn. »Nehmt mich mit!«, schrie er. Die Worte waren kaum unterscheidbar. Es war ein tierischer Laut, der Laut eines wütenden Tieres.
    »Bleib, wo du bist«, rief Schneemensch. Die Craker standen still vor Verwunderung, starrten, hatten aber – wie es schien – keine Angst. Der Mann kam weiter auf sie zu, stolperte, fiel hin. Schneemensch erschoss ihn. Er wollte nicht, dass die Craker sich ansteckten – konnten sie das, oder war ihr Genmaterial zu verschieden? Sicher hatte Crake ihnen Immunität gegeben. Oder nicht?

    Als sie die Außenmauer erreichten, war da noch jemand, eine Frau.
    Sie stürzte plötzlich aus dem Torhaus heraus, weinend, und griff nach einem Kind.
    »Helft mir!«, flehte sie. »Lasst mich nicht hier zurück!«
    Schneemensch erschoss auch sie.
    Beiden Vorfällen schauten die Craker erstaunt zu: Sie verbanden das Geräusch, das Schneemenschs kleiner Stock machte, nicht mit dem Zusammenbrechen dieser Leute.
    »Was ist das, was da hingefallen ist, o Schneemensch? Ist das ein Mann oder eine Frau? Es hat Extrahäute, wie du.«
    »Das ist nichts. Das ist ein Teil eines bösen Traumes, den Crake gerade träumt.«
    Das mit dem Träumen hatten sie verstanden, wie er wusste: Sie träumten selbst. Crake war es nicht gelungen, Träume auszuschalten.
    Unser Gehirn ist für Träume ausgelegt, hatte er gesagt. Auch das Singen hatte er nicht loswerden können. Unser Gehirn ist für Singen ausgelegt. Singen und Träumen seien miteinander verbunden.
    »Warum träumt denn Crake so einen bösen Traum?«
    »Er träumt ihn«, sagte Schneemensch, »damit ihr es nicht müsst.«
    »Es ist traurig, dass er für uns leiden muss.«
    »Das tut uns sehr Leid. Wir danken ihm.«
    »Ist der Traum bald vorbei?«
    »Ja«, sagte Schneemensch, »sehr bald.« Das war knapp gewesen, die Frau hatte sich wie ein tollwütiger Hund aufgeführt. Jetzt zitterten ihm die Hände. Er brauchte einen Drink.
    »Ist er vorbei, wenn Crake aufwacht?«
    »Ja. Wenn er aufwacht.«
    »Wir hoffen, dass er sehr bald aufwacht.«

    Und so zogen sie zusammen durch das Niemandsland, machten hier und da Halt, um im Vorbeigehen zu grasen oder Blätter und Blumen zu pflücken, die Frauen und Kinder Hand in Hand, mehrere von ihnen sangen mit ihren kristallklaren Stimmen, die sich wie Palmwedel entrollten. Dann zogen sie durch die Straßen von Plebsland wie eine merkwürdige Parade oder der Umzug einer religiösen Sekte. Während der Nachmittagsstürme suchten sie sich Unterschlupf; was leicht war, denn Türen und Fenster hatten ihre Bedeutung verloren. Danach setzten sie ihren Spaziergang in der aufgefrischten Luft fort.

    Manche der Gebäude schwelten noch. Es gab viele Fragen und viel zu erklären. Was ist das für ein Rauch? Das ist Crakes Rauch. Warum liegt das Kind ohne Augen da? Das war Crakes Wille. Und so weiter.
    Schneemensch dachte sich die Dinge aus, wie es gerade kam. Er wusste, dass er ein sehr ungewöhnlicher Hirte war. Um sie zu beruhigen, gab er sich alle Mühe, würdevoll und zuverlässig zu wirken, weise und freundlich. Die Verschlagenheit eines ganzen Lebens kam ihm zu Hilfe.
    Schließlich erreichten sie den Rand des Parks. Schneemensch musste lediglich zwei weitere, in Auflösung begriffene Menschen erschießen.
    Er tat ihnen einen Gefallen, also fühlte er sich deswegen nicht zu schlecht. Andere Dinge machten ihm mehr zu schaffen.

    Spätabends kamen sie endlich an der Küste an. Das Laub der Bäume raschelte, das Wasser kräuselte sich sanft, die untergehende Sonne spiegelte sich dann, rosa und rot. Der Sand war weiß, die Türme vor der Küste waren von Vögeln übersät.
    »Es ist so schön hier.«
    »Oh seht mal! Sind das Federn?«
    »Wie heißt dieser Ort?«
    »Er heißt Heimat«, sagte Schneemensch.

Götze

    Schneemensch plündert die Vorratskammer, packt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher