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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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präsentieren.
    Andererseits könnten diese Neuankömmlinge Crakes Kinder auch leicht als abartig oder wild oder nicht menschlich und als eine Bedrohung ansehen.
    Bilder alter Geschichte purzeln ihm im Kopf herum, Nebenschauplätze von Blut & Rosen: Dschingis Khans Schädelberg, die Haufen von Schuhen und Brillen in Dachau, die leichengefüllten brennenden Kirchen in Ruanda, die Plünderung Jerusalems durch die Kreuzritter.
    Die Arawak-Indianer, die Christoph Kolumbus mit Girlanden und Geschenken von Früchten willkommen heißen, um bald darauf massakriert oder unter den Betten festgebunden zu werden, auf denen man ihre Frauen vergewaltigte.
    Aber warum sich das Schlimmste ausmalen? Vielleicht haben sich diese Leute abschrecken lassen, vielleicht sind sie woandershin gezogen. Vielleicht sind sie krank und liegen im Sterben.
    Oder vielleicht auch nicht.

    Bevor er die Lage erkundet, bevor er sich aufmacht zu dem, was – wie er jetzt merkt – eine Mission ist, sollte er in irgendeiner Form eine Ansprache an die Craker richten. Eine Art Predigt. Ein paar Gebote verkünden, Crakes Abschiedsworte an sie. Aber sie brauchen keine Gebote: Kein Du sollst nicht würde ihnen nützen oder auch nur verständlich sein, weil alles schon eingebaut ist. Es macht keinen Sinn, ihnen zu sagen, sie dürften nicht lügen, stehlen, ehebrechen oder begehren. Sie würden die Begriffe überhaupt nicht verstehen.

    Allerdings sollte er ihnen irgendetwas sagen. Ihnen ein paar Worte zur Erinnerung hinterlassen. Noch besser wären praktische Ratschläge. Er sollte sagen, dass er möglicherweise nicht zurückkommen wird. Er sollte sagen, dass die anderen, die mit den Extrahäuten und den Federn, nicht von Crake kommen. Er sollte sagen, dass man ihnen die lauten Stöcke wegnehmen und ins Meer werfen sollte. Er sollte sagen, für den Fall, dass diese Leute gewalttätig werden sollten – O Schneemensch, bitte, was ist gewalttätig? – oder versuchen sollten, die Frauen zu vergewaltigen (Was ist vergewaltigen?) oder die Kinder zu missbrauchen (Was?), oder versuchen sollten, andere für sich arbeiten zu lassen…
    Hoffnungslos, hoffnungslos. Was ist arbeiten? Arbeiten ist, wenn ihr Dinge baut – Was ist bauen ? – oder anbaut – Was ist anbauen ? –, entweder weil Leute euch schlagen oder umbringen würde, wenn ihr das nicht tut, oder weil sie euch Geld geben würde, wenn ihr es tut.
    Was ist Geld?
    Nein, nichts davon kann er sagen. Crake wacht über euch, wird er ihnen sagen. Oryx liebt euch.
    Dann fallen ihm die Augen zu und er spürt, wie er sachte hochgehoben, getragen, wieder hochgehoben, weitergetragen, gehalten wird.

Fußabdruck

    Schneemensch erwacht vor Morgengrauen. Er liegt da, ohne sich zu bewegen, hört, wie die Flut reinkommt, schwipp-schwapp, schwipp-schwapp, der Rhythmus des Herzschlags. Wie gerne würde er glauben, noch zu schlafen.
    Am östlichen Horizont zeigt sich ein grauer Dunst, jetzt erhellt von einem rosigen, tödlichen Glühen. Wie merkwürdig, dass diese Farbe immer noch zart wirkt. Er schaut hingerissen hin; es gibt kein besseres Wort dafür. Hinreißend. Das Herz ergriffen, davongetragen, wie von einem großen Raubvogel. Nach allem, was geschehen ist, wie kann die Welt immer noch so schön sein? Weil sie es ist. Von den Türmen vor der Küste kommen Vogelschreie und –rufe, die in keiner Weise menschlich klingen.
    Er holt ein paar Mal tief Luft, sucht den Boden da unten nach Getier ab, kommt von seinem Baum herunter, setzt seinen gesunden Fuß zuerst auf den Boden. Er überprüft das Innere seiner Mütze, schnippt eine Ameise heraus. Kann eine einzige Ameise als lebendig betrachtet werden, in einem brauchbaren Sinn des Wortes, oder hat sie nur Relevanz in Bezug auf ihren Ameisenhaufen? Eins von Crakes alten Rätseln.
    Er humpelt über den Strand zum Rand des Wassers, wäscht seinen Fuß, fühlt das Brennen des Salzes: Es hat sich wohl eine Eiterbeule gebildet, die in der Nacht aufgeplatzt sein muss, die Wunde fühlt sich jetzt riesengroß an. Die Fliegen summen um ihn herum, warten auf eine Gelegenheit, sich niederzulassen.
    Dann hinkt er zurück zur Baumgrenze, zieht sein geblümtes Laken aus, hängt es über einen Ast: Er möchte nicht eingeschränkt sein. Er wird nichts außer seiner Baseballmütze tragen, um nicht geblendet zu werden. Er wird die Sonnenbrille nicht aufsetzen: Es ist so früh, dass er sie nicht brauchen wird. Er wird jeden Hauch einer Bewegung wahrnehmen müssen.
    Er pinkelt auf die
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