Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
Vom Netzwerk:
Alliierte Soldaten, russische Kriegsgefangene, italienische Gendarmen, Griechen, sei es in Gestalt von Offizieren oder hochnäsigen älteren Damen, aserbaidschanische Diplomaten und armenische Spione – die Türken selbst erscheinen geradezu in der Minderheit, und ganz offenbar hatten sie nichts zu sagen. Istanbul war 1920 von den Engländern unter Kriegsrecht gestellt worden, und es war keineswegs klar, welchem der nahöstlichen Akteure der Goldene Apfel zufallen sollte; der türkische Rumpfstaat, den Mustapha Kemal («Atatürk») und andere osmanische Offiziere in Anatolien mit Ankara als neuer Heimat der «Großen Nationalversammlung» unabhängig halten konnten, war der am wenigsten aussichtsreiche Kandidat. Doch was den europäischen Mächten im Fall des arabischen Nahen Ostens zunächst gelang, scheiterte im Fall der Türkei kläglich. Nur zwei Jahre nach dem Besuch von Dos Passos in Istanbul war es vorbei mit dem Gewimmel von Soldaten und Glücksrittern aus aller Herren Länder, denn 1923 wurden im Frieden von Lausanne die Grenzen der heutigen Türkei festgeschrieben. Die Istanbul-Passagen in diesem Buch sind wohl das einzige Zeugnis über diese (von türkischen Autoren häufig behandelte) Zeit aus der Feder eines abendländischen Schriftstellers von Weltrang.
    Nicht weniger turbulent als am Bosporus geht es in den anderen Hauptstädten dieser Reise zu. Dos Passos fährt zunächst mit dem Schiff nach Batum am Ostufer des Schwarzen Meeres. Die Reise über Land durch Anatolien wäre wegen des Kriegs der türkischen Truppen gegen die Alliierten kaum möglich, in jedem Fall sehr gefährlich gewesen. In Armenien, Georgien und Aserbaidschan war der Krieg zwar schon vorüber, seine verheerenden Folgen waren dafür umso sichtbarer.
    Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hatte die kaukasischen Republiken, immer schon ein Zankapfel zwischen Osmanen, Russen, Briten und Iranern, wieder dem Einflussbereich der Russen zugespielt. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution und dem Kriegsaustritt Russlands hatten sich die kaukasischen Republiken zunächst auf osmanischen Druck hin für unabhängig erklärt; nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1918 wurde der Kaukasus dann von den Alliierten besetzt. Die kriegsmüden Truppen wurden jedoch bald abgezogen, nur die Hafenstadt Batum, die gemäß dem (von Deutschland diktierten) Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Russland der Türkei zugeschlagen werden sollte, blieb bis März 1921, also nur wenige Monate, bevor Dos Passos dort eintraf, in britischer Hand. In Aserbaidschan und Armenien, die sich wie Georgien Hoffnung auf eine Unabhängigkeit gemacht hatten und wo die Bolschewiken nur über wenig Unterstützung in der Bevölkerung verfügten, marschierten die Sowjets hingegen bereits 1920 ein. Unter dem Deckmantel eines von den Bolschewiken angezettelten Aufstands wurde dann als letzte der Kaukasusrepubliken im März 1921, gleichsam unter den Augen der Briten, Georgien von der elften russischen Armee erobert.
    War die Nahrungsmittelsituation nach dem Ersten Weltkrieg überall im Nahen Osten prekär, so wurde sie in den von der Sowjetunion neu eingegliederten Republiken durch die bereits bestehende Hungersnot in der Restsowjetunion katastrophal verschärft. Weit über fünf Millionen Menschen starben zwischen 1918 und 1922 in den von den Bolschewiken beherrschten Gebieten den Hungertod. Wie fatalistisch, um nicht zu sagen brutalisiert die Zeitstimmung war, bezeugt eine bekannte Aussage Gorkis aus dem Jahr 1921: «Ich nehme an, dass von den 35 Millionen Hungernden die Mehrheit sterben wird.» Dieser sich gegen jedes Mitleid abschottende Fatalismus klingt noch in der kühlen Beobachterhaltung von Dos Passos durch. Er registriert die Verwüstungen, die Zerstörung der traditionellen Lebensverhältnisse, das Elend, die Hungertoten. Aber er wertet nicht. Die Erkenntnis, die er aus dem Gesehenen zieht, sein Fazit, ist nicht moralisch oder politisch, sondern philosophisch und anthropologisch (tatsächlich war Dos Passos in Paris im Jahr 1922 an der Sorbonne kurzzeitig für das Fach Anthropologie eingeschrieben). In Batum sinniert er über die «Dämmerung der Dinge» («The Twilight of Things»). Die entwerteten, nunmehr bedeutungslosen, vormals aber das ganze Sein der Menschen ausmachenden Dinge (man denkt unwillkürlich an Heideggers «Zeug»), die er im Kramladen eines alten Mannes, «dem letzten Hüter der Dinge», in Hafennähe entdeckt, erscheinen als ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher