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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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Augusttage lagen sie auf den Tragen und sprachen über diese Dinge, während die Zikaden zirpten und Drachen am wolkenlosen Himmel ihre Kreise zogen. Sie liebte beide Männer und kaufte ihnen Essen und wusch ihre Wäsche, die sie zum Trocknen auf dem Dach des Schuppens aufhängte. Sie liebte die beiden und verhätschelte sie und bezeichnete sie als ihre kleinen Kindchen.
    Der Marineoffizier machte für ihre elende Lage die, wie er sagte, hilflose russische Seele verantwortlich. Der Ire schob es auf die britische Regierung, Olga schob es auf die Menschheit. Wenn nicht die Läuse gewesen wären und das Problem des Rasierens, wären die beiden Männer glücklich gewesen,
    Eines Morgens kam Olga mit einem Exemplar des Kommunistischen Manifests nach Hause. Es war dreisprachig, russisch, armenisch und georgisch. Sie hatte es von einem Taxifahrer aus Odessa geschenkt bekommen, der Ornithologe gewesen war. Er hatte sie auf sein Zimmer mitgenommen und sie zum Essen eingeladen. Da er ihr aber kein Geld geben konnte, hatte er ihr am Morgen das Kommunistische Manifest geschenkt.
    Am nächsten Tag übersetzten sie es für Higgins. Der Mann und die Frau weinten und küssten sich. Sie müssten an etwas glauben, versicherten sie einander. Von nun an würden sie für Russland arbeiten, für den kommunistischen Christus und Menschheitserlöser. Sie würden Geld für ihre Heimreise verdienen. Olga würde die Jungfrau Maria aufgeben müssen, sie ähnelte zu sehr der Zarin. Er würde keine Hampelmänner mehr machen. Sie würde nie mehr ihren Körper verkaufen. Notfalls würden sie hungern. Sofort begann er, aus ein paar alten Brettern eine Art Sofa zu bauen, um Übung zu bekommen. Sie sah ihm mit leuchtenden Augen zu.
    Jefferson Higgins ging derweil auf und ab und nagte zahnlos an seinem struppigen sandfarbenen Schnauzbart. Die Wunde heilte nicht richtig. Er befürchtete, sich Syphilis geholt zu haben. Er sehnte sich nach einem neuen Gebiss, Sauberkeit und frischer Bettwäsche und Piccadilly und dem Offiziersclub. Das ewige Geplapper der beiden Russen ging ihm auf die Nerven. Wenn er eine Waffe gehabt hätte, hätte er die beiden erschossen.
    Als er Olga für sich allein hatte, bat er sie mit Tränen in den blauen Augen, ihn zu einem kommunistischen Treffen mitzunehmen. Es müsse doch kommunistische Agitatoren unter all den Russen in Stambul geben. Sein Leben habe sich von Grund auf verändert, seit jener Nacht, als Olga ihm in die Schulter geschossen hatte. Gott sei Dank habe sie ihn nicht getötet, warf sie sein und küsste ihn auf die Stirn. Nie wieder würde er für die Briten arbeiten. Er würde heimkehren und für die Unabhängigkeit Irlands arbeiten. Er würde den Roten alle Geheimcodes des britischen Geheimdienstes verraten. Als der Marineoffizier nach Hause kam, lagen sich Olga und der Ire in den Armen. Er will in die Partei eintreten, erklärte Olga. Der Russe schnappte sich den Iren und küsste ihn mehrmals auf den Kopf.
    Tags darauf saß Jefferson Higgins, eine Zigarre im Mund und einen Panamahut auf dem Hinterkopf, in einem kleinen Zimmer des Pera Palace und tippte mit einer Hand einen Bericht. Er war anständig rasiert, der Schnurrbart ordentlich gestutzt. Er trug einen guten grauen Flanellanzug, den Arm mit einer sauberen Bandage an der Brust. Er hatte ein neues Gebiss, das nicht besonders gut saß, aber es waren immerhin Zähne. Er schrieb einen Bericht über Pläne der Bolschewisten, die alliierten Hochkommissare zu ermorden, die alliierten Soldaten zu einer Meuterei anzustiften und mit Hilfe der frustrierten Türken Konstantinopel für die Sowjetregierung einzunehmen. Gelegentlich hielt er inne und blies Rauchringe in die Luft. Dreimal wurde leise an der Tür geklopft. «Kitchener», sagte Jefferson Higgins leise. Ein untersetzter ergrauter Mann in der Uniform eines britischen Obersten trat ein. «Heute nicht Kitchener», knurrte der Oberst, «sondern Baden-Powell.» – «Ihre Stimme habe ich aber erkannt.» Er nahm ein paar getippte Blätter vom Tisch und pfiff leise durch die Zähne. «Das wird eine ganz dolle Nummer, sag ich Ihnen ...» – «Wir werden mit dem Gesocks aufräumen. Der Hochkommissar wird sich ziemlich gemein vorkommen, wenn er das sieht. Sie wissen, wann Sie aussteigen?» – «Jawohl, Sir.» Wortlos legte der Oberst einen amerikanischen Pass auf den Tisch, voller hübscher Sichtvermerke und ausgestellt auf Fernald O’Rielly, Vertreter einer Chicagoer Landmaschinenfabrik, sowie einen Kreditbrief von
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