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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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den nassen Bahnsteig, klettert in den Zug, der sich langsam in Bewegung gesetzt hat.

3. Luna
     
    Abendessen allein neben einem rosagelben Lampenschirm (categoria de lusso), draußen vor dem Fenster die kolorierte Ansichtskarte von San Giorgio Maggiore. Venedig, das Coney Island aller Coney Islands, das Midway der Geschichte, protzige Kulisse für gaffende Touristen, und überall der Geruch von Gezeitenwasser, verrottenden Pfählen, Tümpeln, ein kräftiger Körpergeruch unter dem Lippenstift und dem Parfüm und dem Puder, ein Geruch, traurig amourös wie Kastanienblüten, wie Datura, wie welke Kohlköpfe. Frauen, die auf dem Kai vorbeigehen, tragen das Haar hochgesteckt wie die Prostituierten auf den Bildern von Carpaccio und lange schwarze Seidenschals, deren Fransen noch länger sind als die der Schals der Sevillanerinnen. Ihre Haut ist von frischer gelber Farbe, sie haben ebenmäßige elfenbeinfarbene Nasen. Ein gelegentlich aufflackernder Blitz hinter der Kuppel und dem spitzen Turm von San Giorgio verrät, dass alles bloß inszeniert ist, das Wasser ein genialer Effekt, die Leute auf dem Kai ein Opernchor, ergänzt um ein paar Statisten, der Mond ein kleiner Scheinwerfer.
    Ich laufe rasch aus dem Restaurant, um das Schauspiel nicht zu verpassen, eile unter Bäumen entlang, über bucklige Brücken, durch Gassen, sehe durch Kneipentüren Menschen an langen geölten Tischen sitzen und trinken. Rothaarige Mädchen hinter dem Tresen, betrunkene Männer, die vor einem Bordell am Wasser Gitarre spielen, der durchdringende Geruch von Wein und Knoblauch. Überall Gondeln mit singenden Spaghettitenören. Auf der Piazza spielt eine Kapelle Wilhelm Tell , so gut es eben geht, auf dem Canal Grande Santa Lucia, emporgetragen von einem Sopran über dem Gebrumm von fetten Bässen. Der Elektriker hat den Mond ausgeknipst. In dem sternübersäten schwarzen Diorama kann ich den Großen und Kleinen Bären erkennen. Das Glucksen in den Kanälen wäre so prachtvoll imitiert wie die Nilszene in Aida , wenn der unerträgliche Geruch des Wassers nicht wäre, der glitschige Stufen hinaufkriecht, der Geruch von Fauligkeit und vollgelaufenen Kähnen, den kühlen Händen der Adria, die einem an die Gurgel will.
    Das Florian; Kellner mit breiter Hemdbrust, eiskrembunte Sonnenschirme, Frauen in leichten Sommerkleidern, weiße Stoffe, unter einem grauen Himmel, den jemand ganz oben auf dem Campanile plötzlich mit flatternden grünen, rosa, gelben Papieren gefüllt hat, die schließlich neben den Tischen landen, Reklame für Lulli’s Toilettenartikel. Junge Männer stolzieren zu viert oder fünft durch die Menge, singen Giovanezza, giovanezza . Irgendwo hinter den prächtigen Fassaden, in verborgenen Gassen, um die Touristen nicht zu verschrecken, werden Kämpfe ausgetragen. Etwas liegt in der Luft, weshalb man sich unwohl fühlt inmitten des Geplappers im Florian. An jeder Mauer stehen die Lettern VV LENIN oder M LENIN . Im schwindenden Licht eines gelben Sonnenuntergangs schlendere ich ziellos über das marmorne Pflaster. Ein Boot mit ockerfarbenem Segel, das in der Mitte einen großen dunkelroten Flicken hat, gleitet langsam auf dem narzissengelben Wasser dahin, ein schwarzer Kahn mit vier Männern, die in mühelosem Gleichklang rudern, entfernt sich in Richtung Lido. Unter einem Bogengang hinter mir schauen ein paar Leute auf eine Parole, dicke runde Buchstaben in schwarzer Kreide:
    DIESE BANDE MUSS STERBEN
    «Ah ja», sagt der schnurrbärtige Herr mit Strohhut zu den anderen. «Das bedeutet: Tod den Socialisti.»

4. Express
     
    Dreimal täglich im schaukelnden Speisewagen. Erst durch das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dann durch Bulgarien und ein Eckchen Griechenland. Da ist die Dame aus Wellesley, die für den Atlantic Monthly schreibt; ein eiförmiger Armenier aus New York, der im Kloster San Lazzaro in Venedig zur Schule ging, in Asolo Malerei studiert hat, Priester, Pfarrer und Balkanküche hasst und wehmütig von Tiffany’s und dem alten Martin’s Restaurant auf der Achtundzwanzigsten Straße erzählt; ein zweiter Armenier, dessen Mutter, Vater und drei Schwestern in Trapezunt vor seinen Augen von den Türken in kleine Stücke zerhackt wurden; außerdem ein großgewachsener stahlgrauer Standard-Oil-Mann, sehr groß mit einem kleinen Bäuchlein von der Form eines halben Fußballs. Er sagt, er kann Leute auf den ersten Blick beurteilen, und den ganzen Tag sitzt er da und schreibt für seine Lieblingsnichte
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