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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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gewesen, und Gott hat mich zum Zeugen all der Schrecken der vergangenen Jahre gemacht.
März 1918. Das Wrack der russischen Armee schleppt sich zurück von der türkischen Front. In Baku liegt die Macht in den Händen von Armeniern, die sich auf die Seite der Bolschewisten geschlagen haben. Auf Befehl von unbekannter Seite kommt es zu einem geplanten, organisierten Massaker an der muslimischen Bevölkerung.
Nie werde ich diese schrecklichen Tage vergessen. Mein Mann wurde gesucht. Sein Name stand auf der Liste. Wie durch ein Wunder konnte er entkommen. Wir flohen aus der Stadt und konnten uns unter unvorstellbaren Entbehrungen nach Elisabethpol durchschlagen.
Monate vergingen. Andere kamen an die Macht, und mein Mann wurde zum Innenminister der ersten aserbeidschanischen Regierung ernannt. Türkische Abteilungen rücken auf Baku vor, und noch ehe sie die Stadt erreichen, kommt es zu den blutigen September-Ereignissen. Das war die schreckliche Antwort der Muslime auf das März-Massaker.
Mein Mann begibt sich sofort nach Baku, um diesen Unruhen ein Ende zu bereiten, doch bei seinem Eintreffen hat sich die Woge des nationalen Hasses gelegt. Der nationale Hass ist Klassenhass gewichen. Die Bolschewiki streben nach der Macht, und die Bevölkerung, erschöpft von nationalen und religiösen Konflikten, sieht in den Roten eine neutrale Kraft.
Anfang 1920 sind die Bolschewiki an der Macht, und sie gehen dazu über, mit den Vertretern der nationalen Parteien alte Rechnungen zu begleichen. Wir werden aus unserem Haus gejagt, alles wird uns weggenommen. Mein Mann wird von der Sonderkommission verhaftet und zum Tode verurteilt. Doch angesichts der Verhältnisse in Baku und dank seines großen Einflusses müssen die Sowjets ihn freilassen. Trotz wiederholter Bemühungen wird ihm die Ausreise verweigert, denn sie wissen, dass er Bergbauingenieur und einer der besten Spezialisten in der Erdölbranche ist. Das Schicksal will es, dass ihm ein Posten im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten angeboten wird, was die Chance einer Entsendung ins Ausland bietet.
Mein Mann willigt ein. Und bald darauf reisen wir nach Konstantinopel. Hier erwartete ihn der Tod. Ein Attentäter beendete das Leben meines Mannes, dessen einziges Verbrechen es war, vor allem sein Volk und sein Land zu lieben, dem er sein Studium, seine Arbeit und überhaupt sein ganzes Leben gewidmet hatte.
Zwei Worte noch zu den Gerüchten, dass mein Mann seine Genossen von der «Moussavat»-Partei 6 verraten hat und deswegen zum Tod verurteilt wurde. Für all jene, die den Verstorbenen auch nur flüchtig kannten, sind diese Gerüchte so absurd, dass ich mir die Mühe erspare, ihnen entgegenzutreten. Die glorreiche Erinnerung, die all seine Freunde an den Verstorbenen haben, wird durch solches Gerede nicht beschädigt werden können.
 
Ich bin, mit ergebenen Grüßen, etc.

5. Der Halbmond
     
    Im Innenhof der Bayezid-Moschee werden Bernsteinperlen verkauft, und die Schreiber und öffentlichen Notare haben ihre Tische und Stühle. Wohltäter haben Geld für die Fütterung der Tauben gestiftet, die zwischen den gefleckten Platanen herumfliegen und auf dem Rand des marmornen Waschbeckens sitzen und trinken und den Schnabel aufrichten, so dass bei jedem Schluck ihre Kehle schimmert. Eines grellen Mittags stand ich an einer kühlen Granitsäule und beobachtete einen Beduinen im weißen Burnus, der einem Schreiber einen Brief diktierte mit den Gesten eines Kaisers, der ein Edikt für eine eroberte Stadt formuliert, als ich einen unablässigen Menschenstrom durch das hohe Portal der Moschee gehen sah. In meiner Neugier wagte ich mich etwas näher heran, worauf ein junger Mann, der eine grüne Seidentroddel an seinem bernsteinfarbenen Gebetskranz hin und her schwenkte, mich hereinwinkte. Ein alter Mann schob mir dienstfertig große Pantoffeln über die Schuhe, und dann trat ich über die hohe Schwelle. Der weite, von einem roten Teppich bedeckte Boden unter der Kuppel und die seitlichen Podien waren voller Männer, Bettler und Lastträger und Handwerker mit Lederschürzen und kleine Jungen mit viel zu großem Fes auf dem runden Kopf und stattliche Herren in Gehrock und weißer Weste mit dekorativer Uhrenkette und theologische Studenten mit ordentlich gebundenem weißen Baumwollturban und würdevollem Bart, sie alle saßen dicht gedrängt, die Schuhe neben sich. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch die perlschimmernde Kuppel direkt auf das bronzefarbene Gesicht und den Bart des
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