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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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Knittelverse über seine Reisen. Dann gibt es noch einen Mann mit einer Uhr mit vielen Stempeln, der wie ein Auktionator von der Vierzehnten Straße aussieht, sowie zwei hagere Kolonialengländerinnen. Das alles vor einem immer neuen Hintergrund von blassen Balkanmenschen mit mächtigen Nasen und dunklen Ringen unter den Augen.
    Zwischen den Mahlzeiten sitze ich in der Abgeschiedenheit meines kleinen grünen Abteils voller Knöpfe und Stangen aus Nickel und lese Diehl 3 , der todlangweilig ist, gelegentlich unterbrochen von Passkontrolleuren, Zollbeamten, Detektiven, Geheimpolizisten oder dem Schaffner, einem älteren Belgier, der wie eine Lokomotive keucht, unendlich erschöpft vom zu vielen Unterwegssein, zu vielen gezählten Telegraphenstangen, zu viel Asche auf grünen Polstersitzen. Bei Zwischenstopps vertrete ich mir mit einem energischen Franzosen auf dem Bahnsteig die Beine, wir rauchen die ortsüblichen Zigaretten; er erzählt kenntnisreich über Bukarest, über die Liebe, über Attentate, Dreiecksgeschichten und Diplomatie. Er weiß alles, und seine Kragen und Manschetten sind stets blütenrein. Sein Lieblingsspruch lautet: Aller dans le luxe ... Il faut toujours aller dans le luxe.
    Mit jedem Tag werden die Berge karger und steiniger, der Zug wird immer langsamer, und die Stationsvorsteher haben immer längere Schnauzbärte und immer ungepflegtere Uniformen, bis wir schließlich zwischen einem hellgrünen Meer und gelben sonnenverbrannten Landzungen dahinfahren. Plötzlich sind wir zwischen senffarbenem alten Gemäuer gefangen, das Gleis verläuft zwischen Müllbergen und Zypressen. Der Zug bewegt sich kaum noch, er hält fast unmerklich, als stünde er auf einem Abstellgleis. Sind wir ...? Nein. Doch. Das muss es sein ... Konstantinopel.

II   STAMBUL JULI 1921
1. Pera Palace
     
    Unter meinem Fenster eine staubige, zerfurchte Straße, hier und da ein einzelner Pflasterstein, über den unablässig Fuhrwerke rumpeln und ruckeln, hinauf in Richtung Pera, hinunter zur alten Brücke, den ganzen Tag, von früh bis spät. Dahinter hohe Häuser, noch dichter gedrängt als in New York, auf einem flachen Dach ein barfüßiges Mädchen beim Wäscheaufhängen, und jenseits von roten Kacheln die staubigen Zypressen eines Friedhofs, Schiffsmasten und das Goldene Horn, stahlfarben, Schiffe liegen dort vor Anker. Und vor dem bewölkten Himmel Stambul, Kuppeln, braunschwarze Häuser, helle Minarette, die wie Elfenbeinstifte auf einem Cribbage-Brett überall herumstehen. Weiter oben, wo die Straße einen Bogen um den Friedhof von Petits Champs macht – wieder staubige Zypressen, schiefe Grabsteine mit eingraviertem Turban –, wird Abfall von Karren abgeladen, Asche, Lumpen, Altpapier, Sachen, die in der Sonne glitzern. Und im nächsten Moment kommen Frauen mit Säcken auf dem Rücken herbeigelaufen, einander beiseitedrängend durchstöbern sie den Abfall mit mageren Händen. Krächzende, klagende Stimmen dringen von dort herüber, vermischt mit den Rufen der Gemüsehändler und dem endlos lärmenden Treiben in den engen Gassen.
    Da-damm, da-damm, da-damm, eine riesige Trommel und der ergreifende Gesang eines Dudelsacks. Zwei große Männer mit buntem Turban um den Fes kommen mit einem Affen aus einer Gasse. Das dumpfe Klagelied ist der genaue Ausdruck seines teilnahmslosen unregelmäßigen Gangs. Die Straßenhändler halten inne. Die Bettler, die im Schatten einer Mauer hocken, springen hoch. Die Lumpensammlerinnen richten sich auf und schirmen die Augen ab, um gegen die Sonne etwas zu sehen. Befrackte Kellner beugen sich aus den Hotelfenstern. Zwei Männer, die auf einer Art Tisch mit Griffen ein Grammophon mit weiß emailliertem Trichter tragen, nutzen die Gelegenheit, setzen das Ding ab und lassen es eine erstaunliche Melodie spielen wie ein tropfender Wasserhahn. Die Männer mit dem Affen schlagen verächtlich ihre Trommel und entfernen sich.
    Im roten Plüschfoyer des Pera Palace herrscht große Aufregung. Ein Mann im Gehrock mit einer schwarzen Pelzmütze auf dem Kopf wird hinausgetragen. Auf dem roten Plüschsessel ist Blut, auf dem Mosaikfußboden ist Blut. Der Hoteldirektor läuft mit schweißbedeckter Stirn hin und her. Den Fußboden kann man sauberwischen, der Sessel ist ruiniert. Französische, griechische und italienische Gendarmen 4 marschieren umher, reden miteinander, jeder in seiner Sprache. «Der arme Kerl ist tot, Sir», sagt der britische Militärpolizist zu dem Oberst, der nicht weiß, ob er
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