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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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arabische Aussprache von «Paris» persiflierend, heißt) ebenfalls mit und versprach den Völkern des Nahen Ostens nach dem Ende des Krieges die Selbstbestimmung – oder zumindest die «ungestörte Gelegenheit zur selbständigen Entwicklung», was immer dies heißen mochte.
    Zusätzlich zu diesen Doppeldeutigkeiten unterstützten die Briten nicht bloß König Hussain, für den Lawrence als Verbindungsoffizier zuständig war, sondern ebenso seinen ärgsten Konkurrenten auf der arabischen Halbinsel, Abd al-Aziz Ibn Saud (1880–1953), dessen Verbindungsoffizier Hauptmann William Shakespear (sic!) war. Die Nachrichten über Ibn Sauds Sieg im zukünftigen, nach ihm benannten Saudi-Arabien, erreichen Dos Passos am sechzehnten Tag der Karawanenreise nach Damaskus. («Im Nedschd wird anscheinend nicht mehr gekämpft.») Die Söhne des von Lawrence unterstützten Emirs Hussain waren inzwischen mit dem Segen der Mandatsmächte zu Königen Syriens (Faisal, geb. 1885; von ihm ist auf der Karawanenreise öfter die Rede) und Transjordaniens (Abdallah, 1882–1951) ausgerufen worden. Aber Faisal, wiewohl selbst ein Fremder in Syrien, rebellierte gegen die französische Vorherrschaft im Land (vgl. den Eintrag am siebenunddreißigsten Tag der Karawanenreise: «Leute in geheimnisvollen Höfen, die Anhänger von Faisal waren und gegen die Franzosen konspirierten») und wurde vertrieben. Als «Ersatz» wurde er von den Briten zum König des Irak ernannt (von 1921 bis zu seinem Tod 1933), wo die Briten ebenfalls mit Aufständen zu kämpfen hatten.
    Dabei muss man wissen, dass diese Länder zwar dem Namen nach, nie jedoch als klar voneinander abgegrenzte Staaten oder auch nur eindeutig definierte Verwaltungsbezirke existiert hatten. Die damals von England und Frankreich gezogenen, zum größten Teil bis heute bestehenden Grenzen waren künstlich und werden nach wie vor von den meisten Menschen der Region als künstlich empfunden. Willkürlich zerschnitten sie seit langem zusammengehörige, historisch gewachsene Landschaften, trennten Verwandtschafts- und Handelsbeziehungen und widersprachen eklatant der nomadisierenden Lebensweise vieler Menschen der Region. Der aufmerksame Leser dürfte es bemerkt haben: Dos Passos reist von Teheran bis Damaskus ohne jegliche Pass- oder Grenzkontrollen, und ohne Grenzkontrollen wäre er auch bis Gaza gekommen, wenn er gewollt hätte – eine heutzutage unvorstellbar traumwandlerische Art, den Nahen Osten zu bereisen!
    Ähnlich wie in den arabischen Ländern, wenngleich mit einer anderen Vorgeschichte, sah die Lage in Iran aus, wo sich im 19. Jahrhundert Großbritannien, Russland und das Osmanische Reich um Einfluss stritten. Im Ersten Weltkrieg war das Land zwar neutral, aber die Großmächte trugen ihre Kämpfe auch auf iranischem Boden aus. Mit der Oktoberrevolution zogen die Russen ab, die Osmanen waren ein Jahr später besiegt, und 1921 riss der pro-britische, auf radikale Reformen nach dem Vorbild Atatürks setzende Kosaken-Oberst Reza Khan die Macht an sich. 1925 ließ er sich zum Schah krönen – sein Sohn, Mohammed Reza, wurde 1979 durch die islamische Revolution von Ayatollah Khomeini gestürzt. Die Vorbehalte des Sayyids gegen die Engländer dürften vor diesem historischen Hintergrund niemanden erstaunen. Erstaunlich, wenn nicht alarmierend ist jedoch, wie sehr in Ost und West die politischen Positionen von damals noch den heutigen ähneln.
    Besonders reizvoll für den deutschsprachigen Leser dürften die Reminiszenzen an die im Ersten Weltkrieg zerschellten deutschen Kolonialambitionen sein. Tatsächlich kann Dos Passos auf der Stippvisite in Babylon seinen Durst mit echtem deutschen Bier löschen. Die Bahnlinie von Berlin nach Bagdad war das große Prestigeprojekt Kaiser Wilhelms, der Versuch, den britisch dominierten Nahen und Mittleren Osten für den deutschen Einfluss zu öffnen. Ironischerweise gelangte nur das Bier, nie aber eine deutsche Eisenbahn nach Bagdad!
    Weitaus unmittelbarer als auf dem Weg von Teheran nach Damaskus wird die Zeitgeschichte jedoch auf der ersten Hälfte der Reise erfahrbar. Die meisten Istanbul-Touristen kennen den Taksim-Platz und die von dort nach Galata (heute Karaköy) hinabführende, nach wie vor von der pittoresken hölzernen Straßenbahn befahrene Istiqlal-Straße, die bei Dos Passos noch «Grand Rue de Pera» heißt. Aber welch wunderliches Personal bevölkert die Stadt im Sommer 1921, als der fünfundzwanzigjährige Dos Passos dort eintrifft!
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