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Opfertod

Opfertod

Titel: Opfertod
Autoren: Hanna Winter
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Bekannte. Suzanna Wirt.«
    Allmählich wurde Lena einiges klar. Daher hatte er also auch vom tragischen Unfalltod ihrer Eltern gewusst.
    Artifex erzählte ihr davon, dass seine 17-jährige Schwester Tilla bereits zu Lebzeiten der Eltern sämtliche Funktionen im Haushalt übernommen hatte. Sie galt als verantwortungsvoll und vertrauenswürdig, und das zuständige Jugendamt hatte unter strengen Auflagen zugestimmt, dass das Geschwisterpaar im elterlichen Haus wohnen bleiben konnte, wodurch ihnen ein Aufenthalt im Heim oder bei Pflegefamilien erspart geblieben war. Rückblickend konnte Artifex wohl behaupten, dass die Zeit, die er nach dem Tod der Eltern mit Tilla unter einem Dach verbracht hatte, die schönste seines Lebens gewesen war. Bis zu jenem Tag, an dem Tilla ihm Vincent Rothenbaum vorgestellt hatte. Vincent war doppelt so alt wie Tilla und dem damals 15-jährigen Artifex von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Obwohl es Artifex gelungen war, die beiden auseinanderzubringen, hatte sein Leben schon bald eine weitere dramatische Wendung nehmen sollen. Tilla hatte es sich in den Kopf gesetzt, sich eine eigene Wohnung zu nehmen. Kaum hatte sie die niederschmetternde Nachricht verkündet, war es zwischen den Geschwistern zu einem heftigen Streit gekommen, bei dem Tilla die Treppe hinuntergestürzt und tödlich verunglückt war. Artifex war am Boden zerstört gewesen. In seiner Verzweiflung hatte der schon damals medizininteressierte Teenager, der zu Lebzeiten seines als Thanatologe tätig gewesenen Vaters stets über dessen Schulter geschaut hatte, den Tod seiner geliebten Schwester vertuscht und nichts unversucht gelassen, um sie auf jede erdenkliche Art zu konservieren. Bis heute war er nicht müde geworden, Tilla, sein erstes Plastinat, immer wieder zu optimieren. Jetzt fehlte ihm nur noch die entscheidende letzte Zutat, um sein Meisterwerk zu vollenden.
    Lena hörte, dass er eine Schublade aufzog. Keine zwanzig Sekunden später war er wieder an den OP -Tisch zurückgekehrt. Ihr Blick war wie gebannt auf das Skalpell in seiner Hand gerichtet.
    »Bist du bereit?«
    Lena wurde ganz schlecht, als sie sah, wie sich das Skalpell ihrem Gesicht näherte. Sie presste die Augenlider so fest zusammen, dass sie das Gefühl hatte, dass sich ihr ganzes Gesicht verzerrte. Amüsiert lachte Artifex auf. »Das wird dir nichts nützen, kleine Lena.«
    Er schob ihr mit den behandschuhten Fingern die Lider auseinander. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte: »Deine Augen gehören mir.«

70
    Wulf Belling stellte seinen Peugeot am Kottbusser Tor ab. Er lief die Straße hinunter und hielt nach der Galerie von Oleg Semak Ausschau, während ihm ein kühler Wind um die Nase pfiff. Nachdem er Tamara mit den Ereignissen konfrontiert hatte, war sie völlig ausgeflippt. Es war ihm schier unmöglich gewesen, sie zu beruhigen. Mehr um zu vermeiden, dass sie irgendwelche Dummheiten machte, hatte er sie am Präsidium abgesetzt. Im Anschluss hatte er sich umgehend auf den Weg nach Kreuzberg gemacht. Belling zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und sah sich weiter um. Kurze Zeit später blieb er vor einem heruntergekommenen Schaufenster stehen, über dessen Eingangstür die Initialen O. S. standen. Oleg Semak. Belling stellte fest, dass die Tür abgeschlossen war. Er machte einen Schritt zurück und ließ seinen Blick die mit Graffiti besprühte Fassade emporwandern. Lena hatte recht, wer kein Stammkunde war, würde hier wohl kaum eine Galerie vermuten. Er trat ans Schaufenster und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das einfallende Licht ab. Dahinter lag ein karger Raum, in dem zwischen einer Leiter und einem umgekippten Farbeimer einige Gipsskulpturen standen. Bellings Blick fiel auf ein Treppengeländer am hinteren Ende des Raums. Es führte in das Untergeschoss. Er griff in seine Jackentasche und betrachtete zögerlich den feinen Metallhaken mit Picknadel, den er stets mit sich führte. Nach allem, was ihm Lena berichtet hatte, war mit diesem Semak und seinen Kompagnons nicht zu spaßen. Wenn sie ihn dort unten beim Herumschnüffeln erwischten, würde es ihm an den Kragen gehen. Doch Belling sah keinen anderen Weg. Kurz entschlossen warf er einen Blick über die Schulter und machte sich am Türschloss zu schaffen. Kaum war die Tür aufgesprungen, trat Belling ein und lief zur Treppe. Vorsichtig stieg er die Stufen hinab, die in einen düsteren Keller führten. Unten angelangt, schlug ihm der stechende Gestank von
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