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Opfertod

Opfertod

Titel: Opfertod
Autoren: Hanna Winter
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Kleid.
    »Hallo, kleine Lena«, erklang die ihr schon bekannte Stimme von Artifex. Lena zuckte innerlich zusammen und bekam eine Gänsehaut. Er hatte die ganze Zeit über hinter ihr gestanden und sie beobachtet. Er trat mit hellgrünem Kittel, Haube und Mundschutz zu ihr an den OP -Tisch. Seine stechend blauen Augen sahen sie an. »Ich hoffe, du bist in guter Verfassung, denn heute ist dein großer Tag.« Mit einer ruppigen Handbewegung riss er den breiten Streifen Klebeband von ihrem Mund. »Ich schätze, den brauchst du nicht mehr. Das Sprechen dürfte dir im Moment ohnehin kaum möglich sein. Aber keine Sorge, du musst nichts sagen – es reicht vollkommen aus, wenn du spürst, was ich gleich mit dir tun werde.« Er grinste erneut. »Schließlich sollst du gebührend daran teilhaben, wenn ein Teil von dir in meinem Kunstwerk verewigt wird.«
    Lena starrte ihn mit hasserfüllten Augen an. Das Alcuroniumchlorid. Er musste es ihr bereits gespritzt haben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die volle Wirkung entfalten würde und sie nicht einmal mehr einen einzigen Gesichtsmuskel bewegen könnte. Er öffnete ihren Mund und schob ihr einen Tubus in den Rachen, der an eine Beatmungsmaschine angeschlosen war. Er ging dabei so ruckartig und grob vor, dass Lena das Gefühl hatte, er ramme ihr ein Messer in den Hals, und ihre Kehle schmerzte entsetzlich.
    »Hast du schon mal ein Tier ausgestopft, kleine Lena?« Sie beobachtete, wie er einen Wattebausch zur Hand nahm und ihn mit Desinfektionsmittel tränkte.
    »Nein? Schade, irgendwie dachte ich wohl, du hättest als Kind dieselben Ambitionen gehabt. Du musst nämlich wissen: Du und ich, meine liebe Lena, wir sind uns gar nicht so unähnlich.«
    Im nächsten Moment wischte ihr der Mann mit dem Wattebausch über die Lider. Ihre feine Haut brannte wie Feuer, so dass ihr die Tränen nur so in die Augen schossen. Als sich ihr Sichtfeld wieder einigermaßen geklärt hatte, sah sie, dass er sich ein Paar Latexhandschuhe überzog.
    »Ich habe mich ein wenig bei dir zu Hause umgesehen. Hübsche Wohnung. Und dann alle diese schönen Fotos von den verstümmelten Frauen. Ich selbst hätte mein Zuhause nicht besser einrichten können.« Er betrachtete sie einen Moment lang und fuhr mit dem Handrücken über ihre Wange, bevor er fragte: »Stehst du auf Schmerz, kleine Lena?«
    Sie sah, dass er sich über sie beugte. Seine Hand näherte sich ihrem Gesicht. Dann zog er ihr mit dem Daumen das Unterlid herunter und leuchtete ihr mit einer schmalen medizinischen Stablampe ins Auge, so dass sich ihre Pupillen zusammenzogen.
    »Deine hellgrünen Augen haben mich immer schon fasziniert, weißt du das eigentlich, kleine Lena? Schon seit ich dich damals zum ersten Mal im Schwimmkurs gesehen habe.«
    Lena erschauerte. Im Schwimmkurs? Mein Gott, wer war dieser Mann? Fieberhaft durchforstete sie ihr Gedächtnis, während sie immer wieder registrierte, dass sein Blick zu der Kreatur neben der Tür glitt. Gerade so, als stünde er unter Beobachtung und brauchte für sein Tun die stillschweigende Zustimmung dieser Person.
    »Ich war einige Klassen über dir.« Er lachte. »Trotzdem war ich damals mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen. Ich war der kleine Junge, der immer Angst hatte, ins tiefe Becken zu gehen. Weißt du noch?«
    Die Gedanken rasten nur so durch Lenas Kopf, da fiel es Lena plötzlich wieder ein: Viktor Rudolf! Bereits damals war der Junge wegen seiner eigentümlichen Art aufgefallen. Lena erinnerte sich, dass er nach dem frühen Tod seiner Eltern bei seiner älteren Schwester Mathilda aufgewachsen war, die er regelrecht vergöttert hatte. Sie hatten nur ein paar Straßen weiter gewohnt, und in Fischbach kannte jeder jeden. Es hieß, der Junge habe seinen kleinen Terrier eigenhändig ausgestopft, um ihn so ein Leben lang zu konservieren. Lena hatte nie etwas auf Gerüchte gegeben. Auch dann nicht, als die Schwester von Viktor Rudolf überraschend krank geworden und von dem einen auf den anderen Tag ans Bett gefesselt war. Im Dorf hatten die wildesten Spekulationen über ihre Krankheit kursiert, da sie seither nie wieder jemand zu Gesicht bekommen hatte. Plötzlich erschauerte Lena erneut, als ihr Blick unweigerlich zu der Kreatur unter dem Tuch wanderte und ihr ein grausiger Gedanke kam. O Gott!
    »Umso mehr habe ich mich gefreut, dich in Berlin wiederzusehen«, fuhr Viktor Rudolf seelenruhig fort und entfernte sich vom OP -Tisch. »Genauso wie unsere gemeinsame
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