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Opfer

Opfer

Titel: Opfer
Autoren: Cathi Unsworth
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dort beginnende Straßenabschnitt hieß Golden Mile, was sich allerdings nicht auf die Farbe des Sandstrands bezog, sondern auf das, was sich in den Gebäuden auf der anderen Seite der Promenade befand. Eine Spielhalle an der anderen, jede nach einem anderen Casino in Las Vegas benannt – The Mint, The Sands, The Flamingo, Caesar’s Palace, The Golden Nugget und Circus Circus – und auf der Fassade jedes Betonklotzes ein funkelndes Abbild des Namensgebers. Zwischen den Strandbars, Kiss-Me-Kwik-Sonnenhutverkäufern, Zuckerwatte- und Donutbuden standen sie da wie eine Reihe heruntergekommener alter Drag Queens, die ein Höllengeschrei veranstalteten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Im Mint lehnte Debbie Carver an einem Flipper und fragte sich, was sie gerade am meisten nervte – das schrille Pfeifkonzert der Automaten oder Michael Jacksons »Thriller«, das aus den Lautsprechern über ihrem Kopf plärrte. Vielleicht war es aber auch die Gesellschaft, in der sie sich befand. Am vorletzten Freitag der Sommerferien hing sie immer noch in den öden Spielhöllen herum, während ihre Begleiterin einen Penny nach dem anderen in die Automaten steckte.
    Wieder fragte Debbie sich, ob sie nicht ein bisschen zu selbstlos gewesen war, als sie sich mit dem Mädchen angefreundet hatte, das vor neun Monaten bei ihr in die Straße gezogen war, in das Reihenhaus hinter dem Gaswerk. Andererseits wusste sie nicht so recht, ob es überhaupt ihre Entscheidung gewesen war.
    Debbie hatte Corrine Woodrow letzten Herbst im Handarbeitsunterricht kennengelernt. Corrine hatte sich neben sie gesetzt und fröhlich drauflos geplappert, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen. Eigentlich gab Debbie sich immer unnahbar, aber davon war sie einfach überrumpelt worden.
    Corrine sah nicht sonderlich freundlich aus. Sie trug keine Bluse mit Schlips, sondern nur ein enges Sweatshirt mit V-Ausschnitt, einen genauso engen Bleistiftrock und abgewetzte Stöckelschuhe. Ihre langen, dunkelbraunen Haare fielen ihr über die stark geschminkten Augen. Eine Patschuli-Wolke folgte ihr überallhin.
    Sie kam nicht von weit her, hatte Corrine erklärt, von kurz hinter Norwich. Aber ihre Mum hatte hier gewohnt, war sogar in Ernemouth aufgewachsen. Corrine wurde rot, als sie das sagte. Ihre Finger huschten geschickt über das Sticktuch – so schnell und präzise hätte Debbie nicht arbeiten und gleichzeitig reden können.
    Bald sprachen alle Mädchen der Klasse über Corrines Mutter. Kelly Grimmer wusste aus sicherer Quelle, dass Mrs Woodrow verrufen war. Debbie wusste auch schon, warum. Vor Corrines Haus parkten Tag und Nacht Motorräder.
    Debbie hatte Kelly Grimmer ohnehin nie so richtig gemocht. Auch über Debbie selbst war geflüstert worden, als sie langsam ihr Äußeres verändert hatte. Immer, wenn ihr Vater ihr keinen Stress gemacht hatte, war sie ein kleines Stückchen weitergegangen. Der schwarze Eyeliner, die wilden Spikes, die sie sich mit dem Crimper in die Haare gemacht hatte. All die scheinheiligen Warnungen hatten ihr Corrine nur nähergebracht, und je mehr Debbie über das Leben ihrer neuen Freundin herausfand, desto mehr wollte sie sie beschützen. Sie hatte Corrine sogar einen Sommerjob in dem Gästehaus beschafft, wo sie auch selbst arbeitete – und bereute es sechs Wochen lang.
    Corrine kaute angespannt Kaugummi, während ihre Finger die Knöpfe des Pac-Man-Automaten bearbeiteten. Ihr linker Fuß wippte rhythmisch mit, und der schlanke Knöchel hob und senkte sich im türkisfarbenen Schuh. Corrine war unheimlich stolz gewesen, als sie das Paar von ihrem ersten Gehalt gekauft hatte. Seitdem hatte sie aber kein Geld mehr ausgeben können; ihre Mutter nahm es ihr weg, sobald sie nach Hause kam. Ostern waren die Schuhe noch wunderschön gewesen, jetzt waren sie abgewetzt, fleckig, ausgebeult und brauchten neue Absätze.
    Debbie kaute an den schwarzlackierten Nägeln und dachte darüber nach, wo sie an diesem Abend hätte sein können, wenn sie nur ein Jahr älter wäre. Dann wäre sie jetzt mit Alex unterwegs.
    Alex Pendleton wohnte nebenan. Er war groß, schwarzhaarig und unheimlich gutaussehend und hatte Debbie alles über Musik und Style erklärt. Debbie wollte alles können, was er konnte. Auf lange Sicht hieß das, dass sie ihm aufs Ernemouth Art College folgen würde, wo er schon im zweiten Jahr war. Im Moment fuhr Alex aber auf National-Express-Busgutscheinen von Mars-Verpackungen oder als Tramper mit seinen beiden Freunden
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