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Opfer

Opfer

Titel: Opfer
Autoren: Cathi Unsworth
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ihrer Mutter, und Edna konnte das Youth Dew von der Türschwelle aus riechen.
    »Mum«, sagte Amanda und kam mit ausgestreckten lackierten Krallen auf Edna zu. Die beiden Frauen reichten einander für einen Sekundenbruchteil die Hand und küssten flüchtig die Luft neben ihren Wangen, um jeden unnötigen Kontakt zu vermeiden. Edna rümpfte die Nase, als das Parfum ihrer Tochter als gasförmiger feindlicher Spähtrupp Landfriedensbruch beging.
    »Siehst gut aus«, sagte Amanda, die einen Schritt zurückgetreten war und ihre Mutter musterte: vorschriftsmäßige Dauerwelle, Pastell-Twinset und theatralisch gequälter Gesichtsausdruck, alles in bester Ordnung. Der alberne kleine Köter stand mit gefletschten Zähnen zu Ednas Füßen und zitterte empört, während er Amanda anknurrte.
    Die letzten fünfzehn Jahre hatte ihr Kontakt fast nur in Anrufen bestanden, um Samanthas Besuche in den Sommerferien zu organisieren, oder im Austausch von Weihnachtsgeschenken, die keine von beiden gerne auspackte. Amanda kam es so vor, als hätte die Zeit keine Spuren an Edna hinterlassen. Sie stand noch genauso in der Tür wie an dem Tag, als Amanda sie verlassen hatte.
    »Danke.« Edna zupfte sich verlegen an den Haaren und fragte sich, was mit der Stimme ihrer Tochter passiert war, weil sie sich ganz anders anhörte als am Telefon. Keine Spur mehr von Ernemouth. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, Amanda wäre in London geboren worden.
    Hinter den braunen Brillengläsern zuckte Amandas Blick nervös zu der Stelle hinter Ednas Kopf, wo noch immer nicht ihr Vater aufgetaucht war, und dann wieder zurück zum Morris Minor. Dort rutschte der Grund für all das hier so unwillig vom Beifahrersitz, wie man es für jemanden in dem Alter erwarten würde.
    »Das ist Wayne«, erklärte Amanda, und ihre gute Laune wirkte genauso aufgesetzt wie ihr Akzent.
    Er machte keinen tollen Eindruck auf Edna – ein dürrer Bubi mit Flaum-Schnurrbärtchen, ungepflegten braunen Locken, Bomberjacke und Stahlkappenstiefeln. Neunzehn Jahre alt, Maler und Tapezierer – das war alles.
    Aber für Amanda anscheinend Anlass genug, ihren Ehemann zu verlassen, den Künstler, mit dem sie vor all den Jahren durchgebrannt war, Sammys Vater Malcolm Lamb, der entgegen allen Erwartungen zum Inhaber einer großen Werbeagentur in London geworden war. Wayne war angeheuert worden, das Haus der Familie in Chelsea zu renovieren, hatte aber stattdessen die Ehe zerstört. Amanda hatte Edna weismachen wollen, dass sie sich hier in Ernemouth mit irgendwelchen hirnrissigen Immobilienprojekten ihren Wohlstand sichern würden. Dass ein bisschen Seeluft wichtiger für Sammy sei als ihr Vater, ihre Privatschule und all ihre Freunde in London …
    Edna bekam Angst, ihr Lächeln könnte versagen.
    »Wayne.« Sie nickte kurz.
    Wayne hob den Blick kurz vom Mosaikpflaster, grunzte einen Gruß und senkte die Augen wieder. Keiner von beiden machte Anstalten, dem anderen die Hand zu geben. Die drei waren gefangen, eingefroren, bis laut eine Wagentür zuschlug.
    Sammy stand da mit verschränkten Armen, den Kopf zur Seite geneigt. Im Gegensatz zum letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, trug sie einen Pony, der ihre Augen verdeckte. Das war aber nicht die einzige Veränderung. Wie ihre Mutter in dem Alter hatte Sammy Kurven bekommen. Die stellte sie zwar nicht zur Schau, aber sie trug genau die gleichen Klamotten wie Shirleys Mädchen: rosa-grau gestreiftes T-Shirt, passender Minirock und rosa Plimsolls. Als Edna sie so trotzig-schief dastehen sah, versetzte es ihr einen Stich, und sie hörte ein Flüstern: Alles wiederholt sich ……
    Dann schob Sammy sich die vollen, blonden Strähnen aus den Augen und zeigte dabei ihre abgekauten Fingernägel mit dem abplatzenden rosa Nagellack. Mit dieser einen Geste wurde sie plötzlich wieder ein Kind, Ednas kleine Sammy.
    »Oma«, flüsterte Samantha.
    »Komm her, Kleine! Nimm Oma in den Arm!«
    Sammy warf Amanda einen schiefen Blick zu, den Edna nicht bemerkte, rannte auf ihre Oma zu, schlang die Arme um ihre Taille und vergrub das Gesicht in ihrer Schulter.
    »Oma«, wiederholte sie. »Ach, Oma, wie schön, dich zu sehen.«
    Edna schob Sammy den Pony aus dem Gesicht, eine dicke Träne tropfte ihr aus den Wimpern. Gefühle großmütterlicher Liebe und Wut verschlugen Edna den Atem. »Ist ja gut, Sammy«, flüsterte sie. »Oma ist ja bei dir. Oma ist da.«
    Amanda schob die Sonnenbrille hoch und beobachtete das Ganze mit
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