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Opfer

Opfer

Titel: Opfer
Autoren: Cathi Unsworth
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Fingerabdruck hinterlassen, jemand, der der Polizei unbekannt war, ein Phantom, das seitdem sauber geblieben oder zumindest nicht gefasst und auch sonst nicht aktenkundig geworden war. Mathers hatte Sean angeheuert, damit er diesen mysteriösen Komplizen fand, der sich nach all den Jahren sonstwo aufhalten konnte, und sei es unter der Erde.
    Sean hatte den Job angenommen, obwohl seine ehemaligen Kollegen es nicht gerne sahen, allen voran Charlie Higgins, sein alter Chief Superintendent und Mentor während seiner zehn Jahre bei der Polizei. Nicht, dass er nicht selbst Bedenken hatte. Selbst wenn sie zu Unrecht verurteilt worden sein sollte – hatte die Böse Hexe des Ostens überhaupt eine Chance, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden? Sie würde bis ans Ende ihrer Tage unter falscher Identität leben müssen, immer mit dem Rücken zur Wand, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Sean wusste, was eine bloß geflüsterte Verdächtigungschon auslösen konnte, er hatte die Scheiße auf der Fußmatte gesehen, die eingeschlagenen Fenster, die Schmierereien und Brandsätze. Bei Unschuldigen wie bei Schuldigen.
    Doch mit jedem Kilometer wurde ihm klarer, weshalb er den Fall wirklich angenommen hatte: Nach den langen Monaten der Untätigkeit kam sein Gehirn endlich wieder auf Touren. Er hatte den Fall gebraucht, weil er ihm einen Sinn gab. Auch ihm kam eine neue Identität gerade recht – wenn er wirklich in ein Märchen geraten war, war er wohl der Ritter in strahlender Rüstung –, selbst wenn ihm nie wohl gewesen war bei der Bezeichnung »Held in Uniform«, die ihm die Presse aufgedrückt hatte.
    Sean war zur Zeit der Tat elf gewesen. Er hatte damals nichts davon gehört. Er war auch noch nie in diesem Winkel der Welt gewesen. Nach seiner Zwischenstation hier ging es weiter nach Osten, in den Badeort Ernemouth in Norfolk, wo alles begonnen hatte. Dort sollte er sich mit dem Polizisten treffen, der damals die Ermittlungen geleitet hatte, dem mittlerweile pensionierten Detective Chief Inspector Leonard Rivett. Vorher wollte er aber mit Corrine sprechen und schauen, was ihm ihre Augen verrieten.
    Die Karte auf dem Beifahrersitz zeigte, dass die Einfahrt zur Hochsicherheitsanlage hinter der nächsten Kurve lag. Es war eine viktorianische Einrichtung wie viele andere, unfreundliche Ziegelsäulen und eiserne Bogentore schützten die Anstalt für geisteskranke Straftäter.
    Der Wachmann winkte ihn gelangweilt durch, und vor Sean schlängelte sich die blassgraue Straße durch eine Lichtung, das Heidekraut und die Stechginsterbüsche darauf waren tropfnass vom Regen. Nirgends war ein Lebewesen zu sehen, nicht einmal der Krähenschwarm, den man an so einem verlassenen Ort erwarten würde. Als die geschlossene Abteilung schließlich zu sehen war, wusste Sean auch, warum.
    Mit den Türmen und den Fensterschlitzen, in denen nichts als der stahlgraue Himmel zu sehen war, wirkte das Gebäudewie eine Festung. Sean erschauderte und musste sich beherrschen, nicht sofort zu wenden und wieder wegzufahren. Im Krankenhaus war es ja schon schlimm gewesen, aber das hier …
    Wie lange hält man es wohl an so einem Ort aus, bevor man sich ansteckt.
    Er atmete tief durch, bezwang seine Angst und fuhr weiter.

2
    AUF DEM FLACHEN LAND
    August 1983
    Edna Hoyle blieb noch eine Weile am Küchentisch sitzen, nachdem ihr Mann gegangen war. Ihre Wange war wund von dem hastigen Kuss, den er ihr, den einen Arm schon im Jackenärmel, aufgedrückt hatte, während seine Zigarette noch im Aschenbecher brannte. Normalerweise war Eric nicht nachlässig beim Rasieren und beeilte sich auch nicht so beim Abendessen, als hielte er es keine Sekunde mehr zu Hause aus. Aber normal war zur Zeit gar nichts mehr.
    Edna drückte die Silk Cut aus. Die Zigaretten mit niedrigem Teergehalt waren Erics jüngstes Zugeständnis an die ärztliche Anordnung, besser auf sich aufzupassen – sie waren angeblich nicht so schlimm wie die normalen Rothmans, seine Stammmarke seit Jugendjahren. Nun rauchte er von den neuen doppelt so viele, und man sah ihm dabei die Wut über den verwehrten Genuss richtig an. Bei wie vielen er wohl erst in einer Woche ist, wenn sich alles ändert , fragte Edna sich.
    Sie durfte gar nicht daran denken und widmete sich lieber der Hausarbeit. Sie ließ heißes Wasser ins Spülbecken laufen, gab Fairy dazu und machte sich über die Gläser, Teller und Pfannen her, bis alles glänzte.
    Sie taten es für Samantha , musste sie ihn immer wieder erinnern.
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