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Opfer

Opfer

Titel: Opfer
Autoren: Cathi Unsworth
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noch düster über ihm, aber wenigstens konnte er die Scheibenwischer abstellen. Dafür hatte er das Radio angeschaltet.
    Er hörte nicht richtig hin, wollte sich bloß durch die Stimmen im Hintergrund von dem ablenken lassen, was er in der Anstalt gesehen hatte. Was er dort gespürt hatte. Corrine Woodrows Anblick hatte ihn schockiert, darauf war er nicht eingestellt gewesen. Aber was hatte er erwartet? Fotos konnten einen täuschen, wenn sie ein Gesicht zu einem bestimmten Zeitpunkt einfroren. Sean war darauf hereingefallen wie ein blutiger Anfänger.
    Der ärztliche Leiter der Anstalt hatte Sean zu einem kleinen Verhör in sein Büro gebeten, bevor er ihn zu Corrine ließ. Robert Radcliffe war ein eleganter Mann Anfang sechzig, trug das immer noch dunkle Haar um seine Glatze kurz, und unter seinem weißen Kittel war ein Hemd aus der Jermyn Street samt Hose aus der Savile Row zu sehen. Wenn so ein Mann eine solche Anstalt leitete, statt in der Harley Street das große Geld zu machen, verstand er bei seinem Job sicher keinen Spaß.
    Dr. Radcliffe hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen, der wie alles andere im Zimmer am Boden festgenietet war, und Sean über seine Halbbrille hinweg angesehen. »Und was versprechen Sie sich von ihrem Besuch heute?«, fragte er in einem schweren Bariton mit leichtem schottischen Einschlag.
    »Da weiß ich selbst nicht so genau«, erwiderte Sean und öffnete die Hände, als wollte er dem Arzt seine Ehrlichkeit versichern. »An so einem Fall habe ich noch nie gearbeitet. Ich wollte Corrine nur mal selbst gesehen haben, bevor ich mir anhöre, was die Ermittler und Zeugen von damals über sie sagen.«
    Der Arzt nickte und erklärte, dass niemand hier glaube, bei Corrine bestehe Flucht- oder sonst irgendeine Gefahr, außer vielleicht für sie selbst. Sie bekomme nur noch sehr schwache Medikamente und zeige Erfolge bei ihrer kognitiven Verhaltens- und Kunsttherapie. Mit ihrem kreativen Talent habe sie auch ein Stück von dem Leben wiedergefunden, das vor so langer Zeit geendet habe.
    »Bis die sehr verehrte Janice Mathers sich der Sache wieder annahm.« Dr. Radcliffe starrte Sean durchdringend an. »Sie wissen sicher, dass das hier Ms Mathers’ zweiter Versuch ist, Corrines Freilassung durchzusetzen. Ich kann nur wiederholen, was ich ihr damals schon gesagt habe: Ihre Anstrengungen sind hier fehl am Platz, und es wird nichts Gutes dabei herauskommen. Schon gar nicht für Corrine selbst.«
    Sean blieb ruhig. »Warum sagen Sie das?«
    »Theoretisch sind diese ganzen liberalen Ideen ja gut und schön.« Dr. Radcliffe schloss den Ordner, der offen auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. »Aber was meinen Sie passiert ganz konkret mit Corrine, wenn sie vor die Tore dieser Anstalt gesetzt wird? Sie hat keine Freunde, keine Familie, kein Auskommen. Was meinen Sie, wie lange sie so überlebt?«
    »Das hab ich mich auf der Fahrt hierher auch schon gefragt«, gab Sean zu.
    »Und?« Der Arzt zog fragend die dichten schwarzen Augenbrauen hoch.
    Sean lächelte so ausdruckslos, wie es ging. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen oder Corrine mit meinem Besuch Kummer bereite. Aber ich mache hier …«
    »Nur meine Arbeit«, fiel ihm Dr. Radcliffe ins Wort und stand auf. »Da kann ich natürlich nichts machen. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Mr Ward.«
    Ihre Schritte hallten durch die graugrünen Flure an schmucklosen Wänden und fensterlosen, fünfzehn Zentimeter dicken Türen vorbei. Sean bekam Gänsehaut, als würde er die zahllosen Hilferufe hinter den gepolsterten Wänden spüren.
    Wie lange würde es dauern, bis man sich an dem Wahnsinn ansteckte?
    Der Flügel, in dem Corrine sich befand, war nicht so nüchtern wie der mit den Einzelzellen. Hinter der Sicherheitsschleuse durften die Insassen sich frei bewegen. Hier gab es Kurs- und Aufenthaltsräume, in denen die Bilder und das Kunsthandwerk der Patienten ausgestellt waren wie in einer Schule. Nur das allgegenwärtige Summen der Überwachungskameras deutete darauf hin, dass es sich hier doch um eine Haftanstalt handelte.
    Dr. Radcliffe blieb vor einer Wand mit Bildern stehen und zeigte auf ein Aquarell. Ein langer, blauer Streifen Horizont mit vier schwarzen Gestalten, die mit dem Rücken zum Betrachter aufs Meer hinausschauten, wo gerade ein Möwenschwarm abhob. Sean war kein Fachmann, aber er erkannte, wie geschickt die dezente Palette das Blassgelb des Sands und das dunkler werdende Blau des Meers wiedergab. Er ließ den Blick kurz über die anderen
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