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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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«göttlichen Mathematik», mit deren Hilfe man die denkbar vielfältigste Wirklichkeit mit den denkbar sparsamsten Mitteln schaffen könne, und das, so schien mir, zeigte sich jetzt überall: in der wunderbaren Sparsamkeit, mit der sich Millionen von Verbindungen aus einigen Dutzend Elementen herstellen ließen und sich die mehr als hundert Elemente selbst aus Wasserstoff aufbauten; in der Sparsamkeit, mit der sich die ganze Bandbreite der verschiedenen Atome aus zwei oder drei Elementarteilchen zusammensetzte; und in der Art und Weise, wie ihre Stabilität und Identität durch die Quantenzahlen der Atome selbst garantiert wurden - all dies war schön genug, um das Werk Gottes zu sein.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

DAS ENDE EINER LIEBE
    Als ich vierzehn war, galt es als «abgemacht», dass ich Arzt würde. Meine Eltern waren Ärzte, meine Brüder studierten Medizin. Meine Eltern hatten mein frühes Interesse an den Naturwissenschaften mit Toleranz, sogar mit Zufriedenheit aufgenommen, doch jetzt schienen sie zu der Auffassung gelangt zu sein, die Zeit der Spielereien sei vorbei. Ein Vorfall hat sich mir in diesem Zusammenhang besonders lebhaft eingeprägt. Es war 1947, zwei Sommer nach dem Krieg, und ich befand mich mit meinen Eltern auf einer Autoreise in unserem neuen Humber durch Südfrankreich. Ich saß auf dem Rücksitz, sprach über Thallium und leierte herunter, was ich wusste: wie es in den sechziger Jahren zusammen mit Indium durch die kräftigen grünen Linien in seinem Spektrum entdeckt worden sei; wie einige seiner Salze Lösungen bildeten, die fast fünfmal so dicht waren wie Wasser; warum Thallium eigentlich das Schnabeltier unter den Elementen sei, mit paradoxen Eigenschaften, die Zweifel hinsichtlich seiner Einordnung im Periodensystem ausgelöst hatten - weich, schwer und schmelzbar wie Blei, chemisch dem Gallium und Indium verwandt, jedoch mit dunklen Oxiden wie denen des Mangans und Eisens und farblosen Sulfaten wie denen von Natrium und Kalium. Thalliumsalze seien wie Silbersalze lichtempfindlich - es könnte also auch eine fotografische Technik auf Thalliumbasis geben! Das Thallium(I)-Ion habe große Ähnlichkeit mit dem Kaliumion - Ähnlichkeiten, die in der Wissenschaft und Technik hochinteressant seien, aber für den Organismus absolut tödlich wären, denn biologisch sei Thallium fast ununterscheidbar vom Kalium und schlüpfe daher im Körper in alle Rollen und Laufbahnen des Kaliums, was zu schwersten organischen Störungen führe. Während ich so dahinplapperte, fröhlich, narzisstisch, blind, bemerkte ich nicht, dass meine Eltern auf dem Vordersitz sehr schweigsam geworden waren und ihr Gesichtsausdruck Langeweile, Ungeduld und Missbilligung verriet. Nach zwanzig Minuten konnten sie es schließlich nicht mehr ertragen, und mein Vater rief aus: «Schluss jetzt mit dem Thallium!»
    Doch es kam nicht plötzlich - ich stellte nicht eines Morgens fest, dass die Chemie für mich gestorben war. Es war ein allmählicher Prozess, es schlich sich langsam ein, Stück für Stück, zunächst, glaube ich, ohne dass ich es überhaupt bemerkte. Irgendwann in meinem fünfzehnten Lebensjahr wachte ich morgens nicht mehr mit dieser freudigen Erregung auf - «Heute besorge ich mir die Clericische Lösung! Heute lese ich über Humphry Davy und elektrische Fische! Heute werde ich vielleicht endlich den Diamagnetismus verstehen!» Offenbar wurden mir nicht mehr diese plötzlichen Erleuchtungen, diese erregenden Erkenntnisse zuteil, die Flaubert (den ich jetzt las) als Erektionen des Geistes bezeichnete. Erektionen des Körpers, gewiss, die waren jetzt ein neuer, exotischer Teil meines Lebens - aber diese plötzlichen rauschhaften Zustände des Geistes, diese inneren Landschaften, die sich unverhofft in strahlendem Glanz auftaten, die hatten mich offenbar verlassen. Oder hatte tatsächlich ich sie verlassen? Denn ich ging nicht mehr in mein kleines Labor. Das wurde mir aber erst klar, als ich dort eines Tages überall eine dünne Staubschicht vorfand. Seit Monaten war ich nicht mehr bei Onkel Dave oder Onkel Abe gewesen, und mein Taschenspektroskop trug ich auch nicht mehr bei mir.
    Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich stundenlang in der Science Library gesessen und alles um mich her vergessen hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da sah ich «Kraftlinien» oder Elektronen, die in ihren Bahnen tanzten und schwebten, doch diese halb halluzinatorische Fähigkeit war mir nun ebenfalls abhanden gekommen. Ich sei nicht mehr so
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