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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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verträumt, stattdessen konzentrierter, hieß es jetzt in meinen Zeugnissen - das war vielleicht der Eindruck, den ich vermittelte -, doch ich selbst empfand tatsächlich etwas ganz anderes. Ich hatte das Gefühl, dass in mir eine Welt gestorben, sie mir geraubt worden sei.
    Oft musste ich an Wells' Geschichte von der Tür in der Mauer denken, an den magischen Garten, zu dem der kleine Junge Zutritt erhält, und an seine spätere Vertreibung daraus. Zunächst nimmt ihn das äußere Leben so gefangen, dass sich ein Verlustgefühl gar nicht einstellt, doch dann beginnt dieses Bewusstsein in ihm zu wachsen und ihn zu quälen, bis es ihn schließlich vernichtet. Boyle hatte sein Labor als ein «Elysium», Hertz hatte die Physik als ein «verzaubertes Märchenland» bezeichnet. Mir war, als befände ich mich nun außerhalb dieses Elysiums, als seien die Tore des Märchenlands für mich verschlossen, als hätte man mich aus dem Garten der Zahlen, aus Mendelejews Garten, aus dem magischen Reich der Spiele vertrieben, zu denen ich als Kind doch Zutritt gehabt hatte.
    Bei der «neuen» Quantenmechanik, die Mitte der zwanziger Jahre entwickelt wurde, konnte man die Elektronen nicht mehr als kleine Teilchen in Bahnen ansehen, sondern musste sie als Wellen verstehen. Man konnte nicht mehr von der Position eines Elektrons sprechen, nur noch von seiner «Wellenfunktion», der Wahrscheinlichkeit, es an einem bestimmten Ort zu finden. Sein Ort und seine Geschwindigkeit ließen sich nicht gleichzeitig messen. Ein Elektron schien (in gewissem Sinne) überall und nirgends zugleich sein. All das machte mich schwindelig. Ich hatte mich der Chemie, der Naturwissenschaft zugewandt, um Ordnung und Gewissheit zu finden, und plötzlich waren diese nicht mehr vorhanden. [74] Ich befand mich in einer Art Schockzustand, meine Onkel hatte ich nun hinter mir gelassen, ich schwamm im Tiefen, ganz allein. [75]
    Diese neue Quantenmechanik versprach, die ganze Chemie zu erklären. So begeistert ich darüber war, ich empfand sie auch als eine gewisse Bedrohung. «Die Chemie», schrieb Crookes, «wird auf eine vollkommen neue Grundlage gestellt werden… Wir werden der Notwendigkeit von Experimenten enthoben sein, weil wir im Voraus wissen werden, wie das Ergebnis jedes einzelnen Experimentes ausfallen muss.» Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Aussicht zusagte. Folgte daraus, dass die Chemiker der Zukunft (wenn es sie denn gab) nie wieder eine chemische Substanz würden handhaben müssen, nie die Farben der Vanadiumsalze erblicken, nie Selenwasserstoff riechen, nie die Form eines Kristalls bewundern, sondern in einer farb- und geruchlosen mathematischen Welt leben würden? Das schien mir eine schreckliche Aussicht zu sein, denn ich zumindest musste riechen, anfassen und fühlen können, musste mich mit allen meinen Sinnen mitten in die Wahrnehmungswelt hineinbegeben können. [76]
    Ich hatte davon geträumt, Chemiker zu werden, aber die Chemie, die ich meinte, war die wunderbar detaillierte, naturalistische, deskriptive Chemie des 19. Jahrhunderts gewesen und nicht die Chemie des Quantenzeitalters. Die Chemie, wie ich sie kannte, wie ich sie liebte, hatte entweder aufgehört zu existieren oder ihren Charakter verändert, sich an mir vorbei entwickelt zumindest glaubte ich dies damals. Deshalb war ich der Ansicht, ich sei am Ende des Weges angelangt, am Ende meines Weges zumindest - meine Reise in die Chemie habe so weit geführt, wie es mir möglich war.
    Ich hatte (so will mir rückwirkend scheinen) in einer Art zauberhafter Zwischenwelt gelebt. Nach den Schrecken und Ängsten von Braefield war ich von zwei sehr klugen, liebevollen und verständnisvollen Onkeln in eine Welt der Ordnung, in die Liebe zur Wissenschaft eingeführt worden. Meine Eltern hatten mir Verständnis und Vertrauen entgegengebracht, mir ein Labor und meine Launen gestattet. Die Schule hatte sich glücklicherweise nicht als Hinderungsgrund erwiesen - ich erledigte meine Schularbeiten und blieb ansonsten mir selbst überlassen. Vielleicht war es auch eine biologische Atempause, eine spezielle Latenzphase.
    Doch das hatte sich jetzt alles geändert: Andere Interessen meldeten sich, brachten mich in Wallung, verlockten mich, zogen mich in andere Richtungen. In gewisser Weise war das Leben bunter und reicher geworden, aber auch seichter. Diesen stillen, tiefen Mittelpunkt, meine einstige Leidenschaft, hatte es verloren. Die Entwicklungsjahre hatten mich mit der Gewalt eines Taifuns
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