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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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Atomkern eine Billion Mal pro Sekunde umkreisten, müssten eine Strahlung in Form von sichtbarem Licht erzeugen. Ein solches Atom gäbe einen plötzlichen Lichtblitz ab und stürzte dann in sich zusammen, weil die Elektronen nach dem Verlust ihrer Energie in den Kern fielen. Doch Tatsache war (von der Radioaktivität abgesehen), dass Elemente und ihre Atome Milliarden Jahre Bestand hatten, praktisch von ewiger Dauer waren. Wie konnte ein Atom also seine Stabilität bewahren und dem entgehen, was doch als sein unabwendbares und augenblickliches Schicksal erschien?
    Vollkommen neue Prinzipien mussten angewandt oder erfunden werden, um mit dieser Unmöglichkeit zurande zu kommen. Die Kunde davon wurde zum dritten ekstatischen Erlebnis meines Lebens, zumindest meines «chemischen» Lebens - das erste hatten mir Dalton und die Atomtheorie bereitet, das zweite Mendelejew und sein Periodensystem. Doch das dritte war, denke ich, in gewisser Weise das beeindruckendste von allen, weil es zu der gesamten klassischen Wissenschaft, die ich kannte, und zu allem, was ich über Logik und Kausalität wusste, im Widerspruch stand (oder zu stehen schien).
    Niels Bohr, der 1913 ebenfalls in Rutherfords Labor arbeitete, gelang es, das Unmögliche zu erklären, indem er Rutherfords Atommodell und Plancks Quantentheorie zusammenführte. Die Idee, dass Energie nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Paketen, «Quanten», absorbiert oder emittiert werde, hatte wie eine Zeitbombe fast unbemerkt vor sich hin getickt, seit Planck sie im Jahr 1900 aufgebracht hatte. Von Einstein war sie zur Erklärung des lichtelektrischen Effektes herangezogen worden, ansonsten aber waren die Quantentheorie und ihre revolutionären Möglichkeiten merkwürdig unbeachtet geblieben. Bis Bohr nun auf sie zurückgriff, um die Unmöglichkeiten von Rutherfords Atom zu überwinden. Die klassische Anschauung, das Sonnensystem-Modell, gestattete den Elektronen eine unendliche Zahl von Bahnen, alle instabil, alle in den Kern stürzend. Bohr hingegen schlug ein Atom vor, das eine begrenzte Anzahl diskreter Elektronenbahnen hatte, jede mit einem spezifischen Energieniveau oder Quantenzustand. Den energieärmsten, der dem Kern am nächsten war, bezeichnete Bohr als «Grundzustand» - ein Elektron, das sich im Grundzustand befand, konnte den Kern ewig umkreisen, ohne Energie zu emittieren oder zu verlieren. Das war eine These von verblüffender und ungeheuerlicher Kühnheit, beinhaltete sie doch, dass sich die klassische Theorie des Elektromagnetismus auf die winzigen Abstände des Atoms nicht anwenden ließe.
    Damals gab es noch keinen Anhaltspunkt für diese Hypothese. Es war ein Sprung, von der Eingebung, der Phantasie beflügelt - nicht unähnlich den Sprüngen, die Bohr jetzt für die Elektronen selbst postulierte, nämlich Sprünge ohne Vorwarnung oder Zwischenstufen von einem Energieniveau auf das andere. Denn neben dem Grundzustand des Elektrons gab es nach Bohrs These energiereichere Bahnen, energiereichere «stationäre Zustände», auf die die Elektronen kurzzeitig verlagert werden konnten. Wenn also ein Atom Energie von entsprechender Frequenz absorbierte, konnte ein Elektron aus seinem Grundzustand in eine energiereichere Bahn springen, musste jedoch früher oder später wieder in seinen ursprünglichen Grundzustand zurückfallen und Energie genau der gleichen Frequenz emittieren, die es absorbiert hatte - genau dies geschah bei Fluoreszenz und Phosphoreszenz, und es erklärte auch die Identität von spektralen Emissions- und Absorptionslinien, die über mehr als fünfzig Jahre hin ein Rätsel geblieben waren.
    Nach Bohrs Vorstellung konnten Atome nur durch solche Quantensprünge Energie absorbieren oder emittieren - und die diskreten Linien ihrer Spektren waren einfach der Ausdruck für die Übergänge zwischen ihren stationären Zuständen. Die Zuwächse zwischen den Energieniveaus nahmen mit dem Abstand vom Kern ab, und diese Intervalle, so berechnete Bohr, entsprachen genau den Linien im Wasserstoffspektrum (und der Formel, die Balmer dafür entwickelt hatte). Diese Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit bedeutete Bohrs ersten großen Triumph. Einstein hielt Bohrs Arbeit für eine «enorme Leistung», und dreißig Jahre später schrieb er in einem Rückblick: «Sie erscheint mir auch heute noch als ein Wunder. Dies ist höchste Musikalität auf dem Gebiete des Gedankens.» Das Wasserstoffspektrum, Spektren überhaupt seien so schön und so
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