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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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der Natur dafür vorgesehenen Zeitfenster möglich war. Im Klartext würde dies bedeuten, wenn die Brüste mit vierzehn nicht gewachsen sind, werden sie auch mit 35 nicht mehr viel größer. Auch für die Ausbildung des freien Willens und eines guten Herzens sind bestimmte Zeitfenster vorgesehen: Wer nicht zur rechten Zeit am richtigen Zeitfenster stand, wird als herzloser Mensch sein Leben fristen. So behauptete es jedenfalls das Lehrbuch.
    Meine Mutter hatte dieses Buch von ihrer Freundin und Nachbarin pünktlich zu meiner Geburt geschenkt bekommen. Die Nachbarin hatte ein Jahr früher ebenfalls einen Jungen zur Welt gebracht. Nun hatten die beiden jungen Mütter nichts Besseres zu tun, als Oleg und mich jedes Jahr buchgenau zu prüfen, ob sich bei uns beiden alles planwirtschaftlich gut entwickelte. Wir gingen auf die gleiche Schule, fingen in der gleichen Schultoilette mit dem Rauchen an und schwänzten manchmal gemeinsam den Unterricht. So konnten wir uns im Fall der Fälle besser zu Hause rausreden: Es seien mehrere Stunden ausgefallen.
    Wir entwickelten uns nach Plan, ganz zur Freude der Mütter, bis Oleg vierzehn wurde. Ab da zeigten wir beide Abweichungen vom Buch. Dort stand zum Beispiel: Typisch für dieses Alter ist es, dass sich aus kindlichem Trotz und dem Stumpfsinn ein munterer Wille zur Arbeit im Kollektiv entwickelt, die Lust zur Teilnahme an gemeinnützigen Aktivitäten und das Interesse an politischen Informationen sowie den Grundsätzen der marxistischen Theorie. Anscheinend sind Oleg und ich doch ans falsche Zeitfenster zum Rauchen gegangen. Anstatt eines Interesses an gemeinnütziger Arbeit entwickelten sich bei uns ganz andere Interessen, die in dem Lehrbuch nicht vorgesehen waren. Es entwickelte sich ein großes Interesse für kapitalistische Rockmusik. Oleg mochte Pink Floyd, ich bevorzugte die Rolling Stones und Deep Purple. Die Songs dieser Bands waren die ersten Texte auf Englisch, die uns dazu brachten, diese Sprache zu lernen, um zu verstehen, wovon die Jungs vom anderen Ende des Planeten sangen. Zu kollektiven gemeinnützigen Arbeitseinsätzen verspürten wir keine Lust. Allein schon das Hören von Deep Purple war eine klare Absage an jede politische Information und alle kollektiven nützlichen Aktivitäten. Der Name dieser Band wurde als lebendige und weit verbreitete Redewendung in der russischen Sprache verankert. Bis heute sagen die Russen, wenn sie keine Lust mehr haben und ihre absolute Gleichgültigkeit und Ablehnung ausdrücken wollen: »Es ist mir zutiefst violett.« Die Musik, die wir mochten, hatte, wie alles Westliche, offiziell in unserer Gesellschaft nichts zu suchen. Es gab keine Möglichkeit, diese Musik legal am helllichten Tage zu hören. Unserer Leidenschaft folgend versteckten wir uns mit meinem Kassettenrekorder »Romantiker 306« im Park hinter der Schule, oder wir saßen im Keller des Clubs Medik. Wir kamen da rein, weil der Keller eine kaputte Tür hatte, die nicht zuzusperren war.
    Stets suchten wir nach dunklen Ecken in unserer hellen Welt. In diesen Ecken konnten wir vom Staat, von der Schule, von den Müttern und vom Lehrbuch für sowjetische Kinderentwicklung Urlaub nehmen. Tagsüber suchten wir die Dunkelheit der Nacht. Als beinahe perfekter Ort dafür erwies sich das Planetarium im Haus der Sowjetischen Armee am Suworowplatz 2. »Große und kleine Himmelskörper des Sonnensystems«, »Die Erforschung des Mondes«, »Der Einfluss der Mythologie auf die Entstehung der Sternbilder« – die Programme, die dort liefen, hatten vielversprechende Titel. Die Kinder des Sozialismus sollten sich gut im Sternenhimmel auskennen, denn immerhin hatte unser Staat mehr im Weltall als auf der Erde vor. Die Weltraumforschung stand ganz oben auf der Tagesordnung. Ich glaube, die sowjetischen Machthaber haben sich weit mehr um den Kosmos gekümmert als um irdische Angelegenheiten.
    Das Planetarium war schön und groß, angenehm kühl im Sommer, beheizt im Winter, und das Jahresabo kostete weniger als die Jahreskarte für die Straßenbahn. Der Himmel war immer schwarz, die Sterne und Planeten leuchteten klar, und in der Besucherkantine gab es tschechisches Flaschenbier in wunderbar ausländisch aussehenden dunklen Flaschen mit einem engen Hals. Man muss dazu sagen, die Verkäufer in der Sowjetunion waren nicht so krümelkackerisch wie viele Getränkeverkäufer des Westens, die sogar dann nach einem Ausweis verlangen, wenn die Kids ein Milchgetränk bei ihnen bestellen. In
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