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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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sozialistischen Zeiten waren sie seltene Spezialisten, an einer Hand zu zählen, und hießen Knochenbügler. Später nannten sie sich die »Übersinnlichen«. Besonders große Beliebtheit genossen die Fernsehphysiotherapeuten, die in den frühen Neunzigern das ganze Land vom Bildschirm aus massierten. Das Fernsehen im Sozialismus war nicht herausragend unterhaltsam: Eishockey, Nachrichten, Schwanensee. Der Unterhaltungsaspekt entwickelte sich erst in den Neunzigerjahren in Gestalt von allesamt nach westlichem Konzept produzierten Sendungen, die der russischen Mentalität angepasst wurden – Quizshows mit abschließender Kopfnuss-Verteilung für falsche Antworten oder die Überraschungssendung »Lange nicht gesehen«, in der Verwandte zusammengebracht wurden, die einander nicht ausstehen konnten.
    Die populärste und größte Erfindung von damals bleibt aber das Gesundheitsfernsehen, das wöchentlich Millionen Menschen vor den Bildschirmen in Bann schlug. Hauptakteure waren zwei Männer, ob wirkliche Ärzte oder Schauspieler, wurde nie geklärt. Auf jeden Fall waren es keine herkömmlichen Mediziner, denn beide behaupteten, übernatürliche Kräfte zu besitzen. Der eine, ein großer Blonder, widmete jede seiner Sendungen der Heilung einer bestimmten Krankheit. Einmal bat er alle Menschen mit Magengeschwüren vor das Fernsehgerät, konzentrierte sich und fokussierte all seine Kräfte auf die Bekämpfung dieser Krankheit. Dabei schloss er die Augen und ruderte heftig mit den Armen, als wollte er etwas Unsichtbares greifen. Nach fünfzehn Minuten war die Show zu Ende, und die Geschwüre der Bevölkerung lösten sich langsam auf. Bevor der Blonde vom Bildschirm verschwand, verkündete er das Programm für die nächste Woche. Da sollten dann die Alkoholiker oder Herzkranken dran glauben.
    Sein Kollege, ein kleiner Mann mit schwarzen Locken, trat lockerer und spektakulärer auf. Ohne ein Wort zu sagen, streckte er gleich zu Beginn der Sendung seine Hand in Richtung Kamera und dann an ihr vorbei. Dadurch erschien seine kleine Hand richtig groß, in jedem Schlafzimmer des Landes hing sie praktisch aus der Glotze. Der Arzt mit den Locken konnte alles heilen, ihm kam es nicht auf die Krankheit an. Die Menschen setzten sich auch nicht mit dem Gesicht, sondern mit ihren Wunden zum Bildschirm gewandt vor den Fernseher. Ich weiß noch, wie meine Tante ihre Hausschuhe auszog und ihre kranken Beine auf die Glotze ausrichtete. Dabei rückte sie unbewusst immer näher an den Fernseher heran – bis sie ihre großen Zehen irgendwann an den Bildschirm presste und sich damit quasi in die Hände des Arztes begab. Die Großmutter meiner Nachbarin aus der Wohnung nebenan setzte sich mit dem Rücken zum Fernsehen, sie litt unter heftigen Rheumaanfällen. Keine Medizin und keine Salbe konnten ihr Erleichterung verschaffen, nur der Fernsehtherapeut. Der Arzt mit den schwarzen Locken streichelte liebevoll die Kamera und massierte dadurch die Zuschauer.
    Aus heutiger Sicht war er ein herausragender Physiotherapeut, dem etwas Einmaliges gelang – eine Massenmassage. Mit einer Hand konnte er Tausende, vielleicht Millionen Menschen an den unterschiedlichsten Stellen gleichzeitig kitzeln, sie glücklich machen und ihnen ihre Schmerzen nehmen – es hat wunderbar geholfen. Wem es nicht geholfen hat, war selber schuld. Dann muss er sich mit der falschen Seite zum Fernseher gesetzt oder zwischendurch auf andere Kanäle gezappt haben, obwohl doch jedes Kind inzwischen weiß, dass man nie gesund wird, wenn man durch die Kanäle zappt.
    In Russland behandelte jeder jeden. Mein Freund Frolow therapierte in Moskau die frisch gelieferten Patientinnen in einem Krankenhaus, obwohl er gar keine medizinische Ausbildung hatte. Er schob eigentlich nur Nachtwachen im Empfangsraum des Krankenhauses. Zu seinen Aufgaben gehörte es aufzupassen, dass die Kranken nicht nachts spazieren gingen und dass niemand sie um diese Zeit besuchen kam. Er sollte außerdem den Anmeldungsraum sauber halten und sofort den diensthabenden Arzt wecken, falls ein Krankenwagen nachts einen neuen Patienten einlieferte. Wir spielten damals gerne Karten, das seinerzeit unter Jugendlichen beliebte »Préférence«. Dazu trafen wir uns nachts regelmäßig mal bei mir im Theater, mal bei unserem Freund Oleg, der in einer Bäckerei arbeitete, und eben auch bei Frolow im Anmeldungsraum des Krankenhauses. Dort gefiel es uns am besten. Es gab breite gemütliche Sessel, Spirituosen aus dem
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