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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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Ärzteschrank für Erste Hilfe und viel Platz. Nur der diensthabende Arzt konnte zu einem Problem werden, doch in der Regel schlief er tief und fest im Nebenzimmer.
    Selbst wenn ein Patient mit Beschwerden eingeliefert wurde, weckte Frolow nicht immer seinen Vorgesetzten. Er schickte uns erst raus, zog sich einen weißen Kittel an und spielte selbst den Arzt. Den richtigen weckte er nur, wenn alte gebrechliche Menschen mit ihren immer gleichen Kreislaufbeschwerden ankamen oder Männer, die sich bei einer ihrer lebensgefährlichen Freizeitbeschäftigungen verletzt hatten. Vor solchen Patienten hatte Frolow Angst. Wenn aber junge Mädchen eingeliefert wurden, untersuchte Frolow sie zuerst selbst. Man muss dazu sagen, dass Frolow mit seinem akkuraten Bärtchen und seiner großen quadratischen Brille viel ärztlicher aussah als die richtigen Ärzte in diesem Krankenhaus, die in der Mehrheit ältere, glatzköpfige, etwas verpennte Typen waren. Außerdem war Frolow nicht ganz ahnungslos. In seiner Freizeit hatte er die medizinische Enzyklopädie angelesen und das Lehrbuch für menschliche Physiologie durchgeblättert. Er wusste also bereits, dass der Blinddarm rechts und das Herz links ist.
    Einmal wurde ein hübsches Mädchen mit Schmerzen in der rechten Brustseite eingeliefert, Frolow schickte uns ins Zimmer nebenan, zog Arztkittel und Gummihandschuhe an und untersuchte die Patientin ausführlich von allen Seiten auf eine mögliche Blindarmentzündung hin. Auf dem Höhepunkt seiner Untersuchung betrat der richtige Arzt den Raum, wahrscheinlich hatte er schlecht geträumt und war von allein aufgewacht. Er verstand sofort, was in seinem Anmeldungsraum vor sich ging, blamierte Frolow vor der Patientin jedoch nicht, um den Ruf des Krankenhauses nicht zu schädigen. Stattdessen veranstaltete er mit ihm eine Art Fachgespräch unter Experten.
    »Und was sagen Sie, Kollege?«, fragte der Arzt den Nachtwächter.
    Letzterer faltete die Stirn und äußerte seinen Verdacht auf eine mittelschwere Blinddarmentzündung. Frolow war sicher, dass die Beschwerden auf eine Vergrößerung des Blinddarmes zurückzuführen seien, ein sofortiger chirurgischer Eingriff aber nicht notwendig sei. Man könne bis morgen früh damit warten. Die Patientin hörte dieser Unterhaltung verblüfft zu, beide Ärzte schienen ihr nicht besonders glaubwürdig, aber irgendwie gelang es ihr, mit ihrem sechsten Blinddarmgefühl Frolow als falschen Arzt zu entlarven. Zum Glück hatte die Frau auch unter Schmerzen ihren Sinn für Humor nicht verloren und zeigte Frolow nicht an. Sie wurde am nächsten Tag von einem richtigen Chirurgen operiert und entwickelte in den darauffolgenden Tagen, die sie im Krankenhaus verbringen musste, zu Frolow sogar eine vertrauliche, freundschaftliche Beziehung. Er ließ es zu, dass ihre Familienangehörigen sie zu nicht er laubten Zeiten besuchten, besorgte ihr die teuren Zigaretten ihrer Lieblingsmarke »Kosmos« und brachte ihr sofort, quasi auf Befehl, seine Sporthose und ein T-Shirt, als sie aus dem Krankenhaus abhauen wollte. Es hatte sich zwischen den beiden beinahe eine Liebesbeziehung entwickelt. Mein Freund Oleg bezeichnete sie als »Stockholm-Syndrom«, wie man es nennt, wenn eine Geisel und ein Geiselnehmer sich ineinander verlieben und nicht mehr unterscheiden können, wer wen gefangenhält.
    Nachdem das Mädchen aus dem Krankenhaus getürmt war, wurde Frolow entlassen. Doch wie das Schicksal es wollte, bekam seine ärztliche Karriere schon bald eine unvorhergesehene Fortsetzung. Ohne Job und ohne eine Lehrstelle war Frolow in den Augen des Staates ein Schmarotzer. In der Sowjetunion gab es keine Arbeitslosigkeit, der Staat hatte für jeden Menschen etwas zu tun. Frolow wurde also von den entsprechenden Behörden am Kragen gepackt und in die sowjetische Armee gesteckt. Schneller, als er sich umdrehen konnte, marschierte er in einer etwas zu großen Uniform auf dem Platz herum und musste alle Offiziere und Altsoldaten lauthals grüßen.
    Die Ehrenpflicht, in der sowjetischen Armee zu dienen, war für viele junge Seelen eine ziemliche Nervenbelastung. Frolow war zudem Pazifist. Allein bei der Vorstellung, bald mit einem Maschinengewehr auf jemanden oder etwas schießen zu müssen, wurde ihm schlecht. Weil er nicht als ehemaliger Student, sondern als ehemaliger Schmarotzer in die Armee gekommen war, landete er auch noch in einer besonders merkwürdigen Abteilung. Lange Zeit bekamen Oleg und ich keinen Briefe von ihm, dann
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