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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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einmal eine. Der gastfreundliche Löffel in meiner Tasche meinte allerdings, es sei definitiv notwendig, alle acht zu besitzen. Allein schon die Tatsache, dass ein anderes dazugehöriges Besteckstück, das wie ein flacher quadratischer Löffel aussah und sich mit dem noblen Namen »Kaviarschäufelchen« schmückte, nur zusammen mit den anderen acht Austerngabeln zu haben war, machte ihren Kauf unvermeidlich. Durch die entstandene enge Freundschaft mit dem Moskauer Löffel stockte ich meine Besteckvorräte kräftig auf. Ich habe aber bemerkt, nur Ausländer kaufen auf dem Flohmarkt Besteck. Vielleicht weil sie aus Hungerländern kommen? Die Einheimischen ekeln sich wahrscheinlich davor, benutztes Besteck zu verwenden. Auf dem Rückweg habe ich noch ein mit Perlen geschmücktes Dessertbesteck gekauft, und beinahe hätte ich auch eine geheimnisvolle Riesengabel für großkalibriges Essen erworben, die sich aber bei genauer Betrachtung doch als eine Bürste zur Rückenmassage erwies. So etwas brauche ich nicht, ich wohne wie gesagt nicht weit von der ältesten Physiotherapiepraxis unseres Bezirks.
    Ärztehäuser kommen und gehen, Frau Almert bleibt. Sie massiert dem Prenzlauer Berg seit dreißig Jahren den Rücken und kann wahrscheinlich mit geschlossenen Augen jeden im Bezirk durch bloßes Abtasten identifizieren. Frau Almert schuftet von früh bis spät, sie hat viel zu tun. Die meisten Rücken bei uns sind krumm, angespannt und tun irgendwo in der Mitte höllisch weh. In der Regel genau dort, wo die Massagegabel nicht hinreicht. Frau Almert hat inzwischen eine physiotherapeutische Dynastie gegründet und arbeitet mit ihrer Tochter zusammen. Schon als Kind hatte sie ihrer Oma die Füße massiert. Auf die Frage, was sie später werden wolle, sagte sie, sie wolle eine Füßetherapeutin werden. Die Patienten liegen bei ihr auf kleinen Couchen nebeneinander, die durch rosa Vorhänge voneinander getrennt sind. Die Leute können einander nicht sehen, aber sie hören einander.
    »Sie sagen mir, wenn es weh tut«, sagt Frau Al mert immer zu Anfang. »Ist das der Punkt? Ist das der Punkt?«, tastet sich die Ärztin vor.
    Ich liege in der Regel schweigend da und höre den Stimmen rings um mich herum zu. Rechts von mir wird über eine Fernsehserie debattiert, die ich nicht kenne.
    »… und dann sagt dieser junge Doktor zu ihr, die Chancen um Robin stehen schlecht. Der ist eigentlich ganz schnuckelig, dieser junger Doktor, aber sie liebt ja nun mal ihren Robin, der im Koma liegt. Da will sie ihm das Kleid zeigen, das sie zu der Hochzeit gern tragen würde, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Sie denkt, in diesem Kleid wird sie ihn aus dem Koma wecken. Und so läuft sie in diesem Kleid durch die Reha und merkt nicht, dass ihr Robin schon längst tot ist. Eine furchtbare Tragödie. Aber der junge Doktor ist echt schnuckelig nach meinem Geschmack.«
    »Was haben Sie für Probleme?«, fragt Frau Almert währenddessen eine neue Patientin, die links von mir liegt.
    »Ich höre meinen Puls«, antwortet die Frau. »Also jetzt gerade nicht, aber abends, wenn ich nach der Arbeit zu Hause sitze, höre ich ihn.«
    »Arbeiten Sie im Büro? Wohnen Sie allein? Ist das der Punkt? Ist das der Punkt?«
    Frau Almert errät immer richtig, wo der Punkt ist.
    »Und wie geht es Ihnen, Herr Kaminer?«
    Wie immer gut. Ich habe sehr viel Besteck gekauft, vielleicht schreibe ich demnächst einen wissenschaftlichen Aufsatz »Mentale Unterschiede beim Besteckkauf zwischen Einheimischen und Einwanderern«. Die quadratische Kaviarschaufel habe ich übrigens inzwischen als Exponat für die Ausstellung »Einwanderungsland Deutschland« geopfert. Die Organisatoren haben bei mir angefragt, mit welchen Gegenständen ich vor zwanzig Jahren Russland verlassen habe und welche Hoffnungen ich damals mit Deutschland verband. Ich bin fast ohne Gepäck, nur mit einer Kaviarschaufel im Koffer nach Deutschland gereist, antwortete ich. Wir hatten große Erwartungen, was Deutschland betraf, wir dachten, wir würden hier jeden Tag Kaviar schaufeln. Leider haben sich unsere Erwartungen nicht in diesem Ausmaß bestätigt.
    Warum waren wir bloß so leichtgläubig und naiv? Hat die Kindermedizin dabei vielleicht eine Rolle gespielt? Ich glaube, wir haben uns im Sozialismus irgendwie falsch entwickelt. Im sowjetischen Lehrbuch über Kinderentwicklung stand schwarz auf weiß, dass die Entwicklung bestimmter Organe und die Ausbildung von Charaktereigenschaften nur in einem von
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