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On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

Titel: On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
Autoren: Tilman Birr
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grummeln:
    »Na, wer hätte das gedacht.«
    Schon wieder kamen mir die Sozialwissenschaftler in den Kopf. In einem Werk über die DDR -Gesellschaft hatte ich einst den Pleonasmus gelesen: »Das Konzept der Industriegesellschaft ist ein auf Industrialisierung beruhendes Struktur- und Entwicklungsmodell.« Ach komm! Wie sagte meine österreichische Großmutter immer: »Jå, des is hoit des.«
    Wir wendeten und fuhren flussabwärts.
    »Links sehen Sie die Reste des Palastes der Republik. Der Palast wurde in den Siebzigerjahren an der Stelle gebaut, an der früher das Stadtschloss der preußischen Könige stand. On ze left you see what is left of ze palace of ze republic …«
    Sie erklärte nur die Hälfte. Was war im Palast drin? Warum steht das Stadtschloss nicht mehr? Und warum wird der Palast jetzt abgerissen?
    »Die Berliner nannten den Palast liebevoll Erichs Lampenladen.«
    Das klingt aber nicht sehr liebevoll. Und wer war Erich?
    Sie setzte das Mikrofon wieder ab und sprach mit mir:
    »Das ist sowieso schwierig mit den Touristen. Die kommen hierher und glauben, sie setzen sich ins gemachte Nest. In Mitte kann man ja kaum noch über die Straße laufen, ohne dass man gegen einen Italiener stößt.«
    »Äh, ja. Das stimmt.«
    »Würde mich ja nicht stören. Aber wir müssen das hier ausbaden.«
    Wann hat ihr Unwohlsein mit den Touristen wohl eingesetzt? Wenn ich diesen Job mache, werde ich dann automatisch auch so? Aus meiner Kindheit kannte ich das Phänomen des Kinder hassenden Bademeisters im Freibad und kam nun zum ersten Mal auf den Gedanken, dass er vielleicht gar nicht als Kinderhasser Bademeister wurde, sondern erst im Laufe seines Aufseherdaseins dazu wurde.
    »Vor uns die Moltkebrücke, die 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins restauriert wurde. Der preußische General von Moltke sollte mit der Benennung geehrt werden. Moltke kämpfte in den Deutschen Kriegen.«
    Das Skript hatte sie gut auswendig gelernt.
    »Se bridge was named after se prussian general Moltke, who fought in se agreement wars.«
    Agreement wars: Übereinkunftskriege. Ein interessanter Gedanke. Vielleicht hatte ich da noch Lücken in meinen Kenntnissen des 19. Jahrhunderts.
    Wir fuhren in den Tiergarten.
    »Die Siegessäule wurde nach den Deutschen Kriegen von 1864 bis 1871 gebaut. Die Figur auf der Säule stellt die Siegesgöttin Victoria dar. Wegen ihrer Farbe nennen die Berliner die Figur liebevoll Goldelse.«
    Man hälts im Kopp nicht aus!
    »Se column of victory was built after se agreement wars of 1864 to 1871.«
    Schon wieder! Wie sieht wohl ein Übereinkunftskrieg aus? Totschießen mit beiderseitigem Einverständnis? Ich schrieb auf: ›Deutsche Kriege – agreement wars‹ und setzte ein Fragezeichen dahinter.
    »Ich weiß gar nicht, ob die überhaupt was verstehen«, sagte sie wieder zu mir. »Ich red das einfach runter, und wenn sie zuhören: schön. Wenn nicht, dann ist das nicht mein Problem.«
    »Jaja, das stimmt wohl.«
    Sie hatte es erfasst. Genau deswegen wollte ich diesen Job machen. Wer nicht zuhört, hat Pech gehabt. Wir sind ja hier nicht in der Schule (»Ich frag das beim nächsten Mal ab, Herrschaften.«). Mit Ekel dachte ich zurück an die Zeit, in der ich als Nachhilfelehrer unverschämte Achtklässler in Mariendorf unterrichten musste. Mit Hand und Fuß hatte ich jedes Mal die Grobheiten der englischen Grammatik aufs Neue erklärt, nur um bei der folgenden Sitzung doch wieder in den Hausaufgaben zu lesen: »John go in the gym. There he play skwash.«
    Diesmal konnte ich es besser machen: Ich würde die Gäste immer nur ein einziges Mal sehen, und wer nichts verstand, konnte sein Aufmerksamkeitsdefizit woanders aus sich herauszappeln. So müssten Nachhilfeschüler auch sein: zuhören, zahlen, gehen.
    »Den Glockenturm, den Sie links sehen, hat die Firma Daimler-Benz der Stadt Berlin zum 750-jährigen Jubiläum der Stadtgründung geschenkt. Eigentlich heißt das Glockenspiel Carillon, die Berliner nennen den Turm aber liebevoll St. Daimler.«
    Wegen ihrer Ansagen nennen die Berliner diese Stadtbilderklärerin liebevoll »Tante Quasseline«. Haha.
    »Meine Damen und Herren, wir legen nun kurz vor dem Haus der Kulturen der Welt an und machen fünf Minuten Pause.«
    Bevor ich nach Berlin zog, dachte ich, ein Gebäude, das »Haus der Kulturen der Welt« hieß, müsse ja wohl eine DDR -Gründung sein und im Osten stehen. Zum einen wegen des »Wir halten Freundschaft mit allen Völkern der Welt und der
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