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On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

Titel: On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
Autoren: Tilman Birr
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sagt ja auch niemand »Weniger-bekannte-Flüsse-Viertel« zu der Gegend in Friedrichshain, in der Weichsel-, Kinzig-, Fulda- und Finowstraße liegen. Im holländischen Zoetermeer gibt es ein Apfelviertel. Golden Delicioushof, Cox Orangehof, Jonagoldhof. Wer denkt sich so was aus? In Hamburg gibt es eine Käfersiedlung, und es würde mich nicht überraschen, wenn es irgendwo ein Hundeviertel gäbe. Terriersteig, Collieweg, Golden-Retriever-Straße. Nur eine Schäferhundstraße gibt es dort wahrscheinlich nicht, weil das zu sehr nach Nazi riecht. Klingt aber schon geil: Ich wohne in der Schäferhundstraße, Ecke Kruppstahlallee. Blutstraße, Ecke Bodenstraße. Da könnte man ein ganzes Naziviertel bauen. Blondschopfstraße, Ecke Blauaugenweg. Endsiegallee, Ecke Tausendjähriges-Reich-Straße. Wir-haben-dem-Führer-ewige-Treue-geschworen-Boulevard, Ecke Anschlussstraße. Dann muss es da aber auch irgendwo eine Guido-Knopp-Straße geben. Vielleicht als Ringstraße um das ganze Viertel herum.
    Apropos Ringstraße: Wenn ich irgendwann in die Position kommen sollte, eigenmächtig die Benennung von Straßen bestimmen zu können, dann würde ich mir eine Ringstraße suchen und sie abschnittsweise nach Mitgliedern der Familie Herder benennen: nach dem Botaniker Ferdinand Gottfried von Herder, dem Geologen Sigismund August Wolfgang von Herder, dem Verleger Bartholomä Herder und natürlich dem Dichter Johann Gottfried Herder. Über die Grenzen der Region hinaus würde diese Straßenfolge als »Herderringe« bekannt werden, und meine Stadt würde zur Pilgerstätte für tausende spätpubertierende Rollenspieler in Lendenschurz und mit Trinkhorn am Gürtel. Kneipen mit pseudokeltischen Schriftarten auf grünen Schildern würden sich dort ansiedeln, die Met ausschenken und in denen man sich mit »Wohlan« begrüßt. Hobbits würden dort Stramme Mäxe vertilgen, Zwerge mit den Ausweisen ihrer großen Brüder Bier kaufen, und kahlrasierte Orks aus Hoyerswerda (Heizungsbauer, abgebrochen) würden sich betrinken und Ärger machen, während die zartfühlenden Elben (Soziale Arbeit an der Fachhochschule) langohrig daneben stünden und melancholisch den Kopf schüttelten wie ein Indianer, der mit ansehen muss, wie auf den Gräbern seiner Ahnen ein Einkaufszentrum gebaut wird.
    Wo war ich jetzt? Ach ja, Stadtplanung und 1871. Also weiter im Text. 1920 Erweiterung Berlins auf heutige Grenzen. Krieg, Mauerbau, Mauerfall. Folgt kleine Brückenkunde: Monbijoubrücke ist nagelneu, nach altem Vorbild rekonstruiert. Weidendammer Brücke mit Reichsadler im Geländer (sehr niedrig, bitte sitzen bleiben!). Marschallbrücke war Grenzübergang für den Wasserweg. Moltkebrücke nach Moltke benannt. Was? »Helmuth von Moltke war ein hoher preußischer Militär des 19. Jahrhunderts. Er sollte mit dieser Benennung geehrt werden.«
    Ach was. Unglaublich. Das Skript verkaufte die größten Banalitäten als Erkenntnis, verpasste es aber zu sagen, wer Moltke genau war. Mir ist außerdem kein Fall bekannt, in dem jemand mit einer Straßenbenennung geschmäht werden sollte. Ausnahmen sind möglich. Als Willy Brandt 1992 starb, haben sich einige bayerische Dorfbürgermeister einen Spaß daraus gemacht, ihre hässlichsten Straßen, die ursprünglich »Hinterm Klärwerk« oder »An der Jauchegrube« hießen, nach Willy Brandt zu benennen. Ein oberbayerischer Hardliner, der Willy Brandt immer noch für einen Vaterlandsverräter und Ostpreußenverkäufer hielt, hatte es sich sogar erlaubt, eine mittelalterliche Hinrichtungsstätte mit dem Namen Willy Brandts zu versehen. Zwar musste er so den Namen eines zentralen Platzes opfern, doch war ihm das die Schmähung des Kommunistenfreundes offensichtlich wert, zumal er durchsetzen konnte, dass auf dem Platz eine Informationstafel aufgestellt wurde: »Der Galgenplatz lag ursprünglich außerhalb der Stadtmauern und war im Mittelalter der Standort des Galgens und des Schafotts, zur Zeit der Hexenprozesse auch der Scheiterhaufen. Bis ins 19. Jahrhundert wurden hier die Todesurteile an verurteilten Verbrechern, Mördern und Verrätern vollstreckt. 1993 wurde der Platz nach dem früheren Bundeskanzler Willy Brandt benannt.«
    Im privaten Kreis soll der Bürgermeister fortan nur noch vom »Platz des Vaterlandsverräters« gesprochen haben. Als ihm diese Bezeichnung bei einer Pressekonferenz herausrutschte, musste er seinen Hut nehmen, verließ daraufhin die CSU und gründete eine lokale Wählergemeinschaft, die bei den
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