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Öland

Öland

Titel: Öland
Autoren: Johan Theorin
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nichts. Dann drehte sie sich um und sah
     zum Telefon, aber es blieb still.
    Julia sah auf den Zettel, der seit vielen Jahren an einerweißen Kachel über dem Brotkasten klebte, und wählte die
     Nummer.
    Ihr Vater nahm nach dem ersten Klingelton ab.
    »Gerlof Davidsson.«
    »Ich bin es«, sagte sie.
    »Ah, ja. Julia.«
    Es war still in der Leitung. Julia gab sich einen Ruck.
    »Ich hätte nicht auflegen dürfen.«
    »Ja, ach …«
    »Das nützt ja nichts.«
    »Nein, das ist richtig«, stimmte ihr Vater zu. »Aber so ist das
     manchmal.«
    »Wie ist das Wetter auf Öland?«
    »Grau und kalt«, sagte Gerlof. »Ich war heute noch nicht
     draußen.«
    Es wurde wieder still, und Julia holte tief Luft.
    »Warum hast du angerufen?«, fragte sie. »Es muss doch was
     passiert sein.«
    Er zögerte mit der Antwort.
    »Ja … hier sind ein paar Dinge vorgefallen«, sagte er schließlich und fügte hinzu: »Aber ich weiß nichts Genaues. Nicht
     mehr als vorher.«
    »Ich dachte, es gibt was Neues.«
    »Aber ich habe viel nachgedacht«, fuhr Gerlof fort. »Und ich
     glaube, dass es ein paar Dinge gibt, die getanwerden können.«
     »Getan werden? Weshalb denn?«
    »Um weiterzukommen«, sagte er und fügte rasch hinzu:
     »Kannst du herkommen?«
    »Wann denn?«
    »So schnell es geht. Ich glaube, das wäre wichtig.«
    »Ich kann doch nicht einfach wegfahren«, sagte sie. Aber so
     unmöglich war das gar nicht, sie war ja auf unbestimmte Zeit
     krankgeschrieben. Sie fuhr fort: »Du musst was sagen … mir
     sagen, worum es geht. Kannst du nichts Genaueres sagen?«
    Ihr Vater schwieg.
    »Erinnerst du dich, was er an dem Tag damals anhatte?«,
     fragte er schließlich.
    »Ja.« Sie hatte Jens beim Anziehen geholfen und später darüber nachgedacht, dass er eigentlich viel zu sommerlich
     gekleidet war, obwohl schon Herbst war. »Er trug eine gelbe
     kurze Hose und einen roten Baumwollpullover«, sagte sie.
     »Mit Supermann drauf. Den hatte er von seiner Cousine geerbt, das war so ein Klebebild, aus dünnem Plastik, das man
     sich selbst mit dem Bügeleisen …«
    »Weißt du noch, welche Schuhe er anhatte?«, fragte Gerlof.
    »Sandalen«, sagte Julia. »Er trug braune Ledersandalen mit
     schwarzen Gummisohlen. Der eine Riemen an den Zehen der
     rechten Sandale war lose, und auch ein paar von der linken
     saßen nicht mehr ganz fest … Das war immer so am Ende des
     Sommers, aber ich hatte den einen festgenäht …«
    »Mit weißem Garn?«
    »Ja«, antwortete Julia sofort. »Ja, ich glaube, es war weiß.
     Warum?«
    Es blieb einige Sekunden still in der Leitung. Dann antwortete Gerlof:
    »Bei mir auf dem Schreibtisch liegt eine alte rechte
     Sandale. Sie ist mit weißem Garn geflickt. Sie sieht aus, als
     könnte sie einem Fünfjährigen passen … Ich sehe sie mir gerade an.«
    Julia schwankte und lehnte sich gegen den Küchentisch.
     Gerlof sprach weiter, aber sie drückte die Gabel mit aller
     Kraft herab, und im Hörer wurde es wieder still.
    Zehn Minuten später hatte sie sich wieder beruhigt, nahm
     die Hand von der Gabel und wählte Gerlofs Nummer.
    »Wo hast du sie gefunden?«, fragte sie. »Wo, Gerlof?«
    »Das ist kompliziert«, sagte Gerlof. »Du weißt doch, dass …
     dass ich mich nicht mehr so gut bewegen kann, Julia. Eswird immer schwieriger … Ich hätte einfach gerne, dass du
     kommst.«
    »Ich weiß nicht.« Julia schloss die Augen und hörte das Rauschen im Hörer. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Sie sah sich
     am Strand vorsichtig zwischen den Steinen die vielen kleinen
     Knochensplitter aufsammeln und fest an ihre Brust drücken.
     »Vielleicht.«
    »Woran erinnerst du dich?«, fragte Gerlof.
    »Wie meinst du das?«
    »Von dem Tag? Erinnerst du dich an etwas Besonderes?«,
     fragte er. »Ich möchte, dass du noch einmal nachdenkst.«
    »Ich erinnere mich, dass Jens verschwunden ist … Er …«
    »Ich denke jetzt nicht an Jens«, sagte Gerlof. »Woran erinnerst du dich noch?«
    »Was meinst du, Gerlof? Ich versteh dich nicht …«
    »Erinnerst du dich an den Nebel, der über Stenvik lag?«
    Julia schwieg.
    »Ja«, sagte sie dann. »Der Nebel …«
    »Versuch dich zu erinnern«, sagte Gerlof. »Versuch dich an
     den Nebel zu erinnern.«
    Der Nebel … Der Nebel war Teil jeder Erinnerung an Öland.
    Julia erinnerte sich an ihn. Im Norden Ölands war so dichter Nebel eher ungewöhnlich, aber im Herbst kam es schon
     einmal vor, dass er kalt und feucht vom Sund über die Insel
    
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