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Öland

Öland

Titel: Öland
Autoren: Johan Theorin
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dass sie nicht lebendig waren –
     zumindest nicht wie er selbst –, trotzdem musste er immer
     daran denken, wie groß sie waren. Sie waren große, schwarze
     Gestalten, die ihn umringten, vielleicht sogar näher kamen,
     wenn er nicht hinsah.
    Er drehte sich erneut um und sah noch mehr Wacholderbüsche. Wacholderbüsche und Nebel.
    Mittlerweile wusste er auch nicht mehr, in welcher Richtung das Sommerhäuschen stand, aber Angst und Einsamkeit trieben ihn dazu weiterzugehen. Er ballte seine Hände
     zu Fäusten und lief über den weichen Boden, wollte die Steinmauer und den Garten dahinter wiederfinden, sah aber nur
     Gras und Büsche. Schließlich konnte er nicht einmal mehr
     sie sehen; die Welt war in einem Nebel aus Tränen versunken.
    Der Junge blieb stehen, holte tief Luft, die Tränen versiegten. Er sah noch mehr Wacholderbüsche im Nebel stehen,
     aber einer von ihnen hatte zwei dicke Stämme – und plötzlich sah der Junge, dass er sich bewegte.
    Es war ein Mensch.
    Ein Mann.
    Er trat aus dem Grau des Nebels und stand nur knapp zehn
     Schritte von ihm entfernt. Der Mann war groß, trug dunkle
     Kleidung und hatte den Jungen entdeckt. Regungslos stand
     er im Gras, mit dicken Stiefeln an den Füßen, und sah auf
     den Jungen herab. Seine schwarze Mütze war tief in die Stirn
     gezogen, und er sah alt aus, aber nicht so alt wie der Opa des
     Jungen.
    Der Junge bewegte sich nicht. Er kannte den Mann nicht,
     und vor Fremden soll man sich in Acht nehmen, hatte seine
     Mama ihm gesagt. Aber jetzt war er wenigstens nicht mehr
     mit den Wacholderbüschen allein. Er konnte sich jederzeit
     umdrehen und schnell weglaufen, wenn der Mann nicht nett
     war.
    »Hallo«, sagte der Mann mit leiser Stimme. Er atmete
     schwer, als wäre er schon lange durch den Nebel gelaufen
     oder gerannt.
    Der Junge antwortete nicht.
    Der Mann schaute sich um. Dann betrachtete er wieder
     den Jungen, ohne zu lächeln, und fragte leise:
    »Bist du allein?«
    Der Junge nickte wortlos.
    »Hast du dich verlaufen?«
    »Ich glaube, ja«, sagte der Junge.
    »Das ist nicht schlimm … Ich kenne mich aus in unserer
     Großen Alvar.« Der Mann kam einen Schritt näher: »Wie
     heißt du?«
    »Jens«, antwortete der Junge.
    »Und weiter?«
    »Jens Davidsson.«
    »Gut«, sagte der Mann. Er zögerte und fügte dann hinzu:
     »Ich heiße Nils.«
    »Und weiter?«, fragte Jens.
    Das war ein bisschen wie ein Spiel. Der Mann lachte kurz
     auf.
    »Ich heiße Nils Kant«, sagte er und kam noch einen Schritt
     näher.
    Jens stand noch an derselben Stelle, hatte aber aufgehört,
     sich umzusehen. Gras, Steine und Büsche waren alles, was es
     in diesem Nebel gab. Und den fremden Mann, Nils Kant, der
     ihn jetzt anlächelte, als wären sie schon Freunde.
    Nebel umschloss sie, kein Laut war zu hören. Nicht einmal
     Vogelgezwitscher.
    »Hab keine Angst«, sagte Nils Kant und streckte seine Hand
     aus.
    Jetzt standen sie ganz nah beieinander.
    Jens fand, dass Nils Kant die größten Hände hatte, die er
     jemals gesehen hatte, und begriff, dass es zu spät war, um
     wegzulaufen.

1
    A ls ihr Vater Gerlof an einem Montagabend im Oktober zum
     ersten Mal nach fast einem Jahr anrief, musste Julia an Knochen denken, die an einen steinigen Strand gespült wurden.
    Knochen, weiß wie Perlmutt und glatt geschliffen von den
     Wellen, zwischen den grauen Steinen an der Uferkante fast
     leuchtend.
    Knochensplitter.
    Julia wusste nicht, ob es sie an dem Strand gab, aber sie
     hatte über zwanzig Jahre darauf gewartet, sie zu sehen.
    An diesem Tag hatte Julia ein Gespräch mit ihrer Krankenkasse geführt, das so schlecht verlaufen war wie alles andere
     in diesem Herbst, in diesem Jahr.
    Wie üblich hatte sie den Anruf so lange wie möglich aufgeschoben, um die Seufzer der Sachbearbeiterin nicht hören zu
     müssen, und als sie endlich anrief, antwortete eine eintönige
     Maschine und fragte nach ihrer Versichertennummer. Nachdem sie alle Ziffern eingetippt hatte, wurde sie weiterverbunden. Sie zwang sich, in der Küche stehen zu bleiben, aus dem
     Fenster zu sehen und dem Rauschen im Hörer zu lauschen,
     einem kaum hörbaren Rauschen wie von weit entfernt fließendem Wasser.
    Wenn Julia die Luft anhielt und den Hörer ganz fest an ihre
     Ohrmuschel drückte, hörte sie in der Ferne manchmal dasEcho von Geisterstimmen. Mal klangen diese dumpf und flüsternd, mal durchdringend und verzweifelt. Sie murmelten
     und hallten in den Abzugsschächten des Mietshauses,
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