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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition)
Autoren: Herman Koch
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saß. Vielleicht war es auch das Schlagen des Schwanzes auf dem Parkett, das mich aufblicken ließ.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, warum er mich mit schief gelegtem Kopf und seinen jetzt wieder hellwachen grünen Augen so anstarrte. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinauf, die Haare standen mir buchstäblich zu Berge. Denn es war mein Gesicht, das der Kater mit starrem Blick fixierte.
    Eigentlich war es da schon zu spät. Zu spät zum Aufstehen, zu spät für abwehrende Bewegungen, zu spät für gutes Zureden in einer dem Kater verständlichen Sprache, dass das Spiel vorbei sei, dass es jedenfalls nicht wieder von vorne angefangen habe – dass ein Kopf, der aus einer Bettdecke herausguckt, nicht das Gleiche ist wie einer, der zur Tür hereingesteckt wird.
     
    »Brav, brav, brav«, sagte Max wieder. Er streckte die Hand nach dem Kater auf meinem Schoß aus, zog sie dann aber doch wieder zurück. Im Nachhinein glaube ich, dass mein Entschluss in diesem Moment feststand.
    Ich war fast sofort nach meiner Rückkehr aus Curaçao zu Max gefahren, ohne erst meinen Jetlag auszuschlafen. Ich hatte das Gefühl, alles müsse jetzt schnell gehen, ich könne nicht bis zum nächsten Tag warten, auf jeden Fall aber müsse ich vermeiden, als Erstes jemandem aus meinem »alten« Freundeskreis über den Weg zu laufen.
    Obwohl es schon Nachmittag war, öffnete Max die Türmit verschlafenem Gesicht. Er schien weder überrascht noch froh zu sein, mich zu sehen. An seiner ganzen Haltung war abzulesen, dass er während meiner Abwesenheit bedeutend weniger an mich gedacht hatte als ich an ihn. Wahrscheinlich hatte er keinen blassen Schimmer, wo ich all die Zeit gesteckt hatte.
    »Curaçao«, wiederholte er langsam und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er schmeckte das Wort auf der Zunge, als wäre es ein klebriger Likör, den man sich selber nie einschenken würde und für den es auf jeden Fall noch viel zu früh am Tag war.
    Es heißt, dass man sein ganzes Leben in Sekundenschnelle an sich vorbeiziehen sieht, kurz bevor man sich zu Tode stürzt oder einem aus nächster Nähe eine Kugel durch den Kopf gejagt wird. So sah ich jetzt, während ich die Hand von der Armlehne hob und dem fauchenden Kater behutsam auf den Kopf legte, all die Momente in meinem Leben vor mir, in denen ich mit knapper Not davongekommen war.
    Und dann sah ich wie ein in der Luft stillstehendes Bild den Kater an dem bewussten Samstagabend mitten im Sprung; ich spürte wieder die Krallen, die durch die Bettdecke hindurch in mein Gesicht schlugen, den scharfen und gleichermaßen betäubenden Schmerz, die Zähne in meinem Unterarm, in meinen Händen …
    Als meine Hand den Kopf fast erreicht hatte, drehte der Kater sich halb um, öffnete das Maul und gab einen Ton von sich, der noch am meisten dem eines Bohrers beim Zahnarzt glich, der in einem Weisheitszahn stecken geblieben ist. Ich sah das rosa Zahnfleisch, auf dem Tropfen perlten, die rosa Zunge und die Rachenhöhle, dunkel wie ein Brunnen, aus dem nie mehr ein Lichtstrahl oder Echo heraufdringt.
    Im dem Moment, als Max einen Schritt auf mich zumachte, legte ich dem Kater die Hand auf den Kopf. Das Geräusch wurde lauter, er drehte den Kopf ruckartig zur Seite, wie um die fremde Hand abzuschütteln. Doch dann, während ich ihm langsam über den Nacken strich, entspannte er sich. Er legte den Leerlauf ein, und als meine Hand am Ende des Rückens angekommen war, begann er sogar, sich behaglich zu räkeln.
    Ich fing wieder beim Kopf an. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und lächelte. Das Fauchen ging in Schnurren über.
    An Max’ Miene erkannte ich, dass er sich über den guten Ausgang nicht nur freute. Als würde ihm etwas genommen, was er nie mehr zurückbekommen würde.
    »Er spürt, dass er dir trauen kann«, sagte er. »Ab heute bist du sein Freund.«

2
    Keine Ahnung, warum mir jetzt, da Max nicht mehr ist, als Erstes ausgerechnet die Sache mit dem Kater einfällt. Vielleicht weil Sylvia mich gebeten hat, morgen auf dem Friedhof ein paar Worte zu sagen. Aber dafür scheint mir die Geschichte nicht wirklich geeignet.
    Ich denke an andere Beerdigungen. Beerdigungen, auf denen zuerst Tränen flossen und dann ein großes Gelächter angestimmt wurde. Ich denke an die Grabrede von John Cleese für Graham Chapman. Und dann denke ich an all die Fotografen. Bestimmt wird es auf dem Friedhof nur so von ihnen wimmeln. Man wird sie vielleicht nicht in die Trauerhalle lassen, aber ein
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