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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition)
Autoren: Herman Koch
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eines erwachsenen Mannes.
    Um Punkt zwölf Uhr gehe ich wieder ins Wohnzimmer zurück und schalte die Spätnachrichten ein. Zum soundsovielten Mal zoomt die Kamera den Kopf heran, der auf dem Lenker liegt. Doch nur ein geübtes Auge erkennt das unscheinbare Loch und die ebenso unscheinbare Blutkruste hinter dem linken Ohr.
    Als die Kamera sich entfernt, sieht man wieder das italienische Restaurant an der Ecke, in dem ich mich an dem Abend mit Max verabredet hatte; nur schemenhaft ist zu erkennen, dass ein Mann in hellblauem Sakko kurze Zeit in der Tür steht, hinter dem rot-weißen Absperrband, sich dann fast lässig entfernt und an der Straßenecke aus dem Bild verschwindet. Niemand hält ihn auf.
    Schon einige Male war diese Person dringend aufgefordert worden, sich bei der Polizei zu melden. Aber bisher hatte ich nicht den Eindruck, als würde das die Aufklärung des Falls voranbringen, geschweige denn, dass ich jemandem damit einen Gefallen tun würde. Allerdings habe ich das Sakko vorgestern in einem anderen Stadtviertel in einen Kleidercontainer geworfen.
    Wir hatten gerade bestellt. Ich sagte zu Max, ich würde noch schnell Zigaretten aus dem Automaten auf der Toilette ziehen, als er die Taschen seines Jacketts abklopfte und sagte: »Ich glaub, ich hab mein Handy im Auto liegen lassen.« Wir standen gleichzeitig auf. Ich ging zur Toilette, er zu Tür.
    Ich schalte den Fernseher aus. Ich glaub, ich hab mein Handy im Auto liegen lassen geben als letzte Worte für einen Rückblick morgen nicht viel her. Wahrscheinlich bleibt es also doch bei der Geschichte mit dem Kater. Obwohl sie vielleicht auch wieder zu viel des Guten ist. Einige werden zuUnrecht vermuten, dass etwas dahintersteckt, irgendeine Doppelbödigkeit; in diesen Kreisen gibt es immer Leute, die überall doppelte Böden suchen.
    Andererseits ist es eine persönliche Geschichte. Oder besser gesagt, eine persönliche Geschichte von Max und mir – aus der Zeit, als alles noch in den Kinderschuhen steckte, einer Zeit, in der ein neuer Freundeskreis noch ein selbst gestecktes Ziel war und nicht etwas, aus dem man sich nur mit größter Anstrengung wieder befreit.

3
    Bevor Max mich eines Nachmittags auf der Toilette des Erasmus-Gymnasiums ansprach, hatte ich ihn schon ein paarmal in der Eingangshalle und auf dem Schulhof gesehen; das war irgendwann mitten im Winter. Ich weiß das noch so genau, weil Max in seinem langen schwarzen Regenmantel auffiel zwischen den schmutzig weißen schwedischen Armeemänteln und den afghanischen Mänteln mit Schaffell-Kragen, mit denen die meisten von uns sich 1970 vor der Kälte schützten.
    Die afghanischen Mäntel rochen auch wirklich nach Schaf, wenn auch nach einem, das sehr lange tot auf einem baumlosen Berghang gelegen hatte, bevor sein Fell zum Kragen verarbeitet worden war. Selber trug ich einen hellen schwedischen Armeemantel mit zugehöriger Mütze aus einem Ramschladen in der Reguliersbreestraat. Er war sehr groß und schwer, und jeden Morgen, nachdem ich ihn mir übergestülpt hatte, konnte ich kaum den Moment erwarten, ihn wieder auszuziehen. Man nahm auch mehr Platz ein damit, als würde man nach Jahren in einem normalen Pkw auf einmal einen Kleintransporter steuern, der auch noch einen Wohnwagen oder Anhänger hinter sich herzog. Man musste einen größeren Wendekreis einkalkulieren, und am Anfang stieß ich, wenn ich mich umdrehte, regelmäßig Gläser oder Vasen vom Tisch. Der schwedische Armeemantel hatte allerdings den Vorteil, dass er nicht nach totem Schaf, sondern einfach nach Armee roch.
    Von Max G. wurde schon bald gemunkelt, er sei von einem anderen Gymnasium geflogen und deshalb mitten im Schuljahr an unsere Schule gekommen. Über die Gründe des Rausschmisses kursierten verschiedene Versionen. So soll er bei einem Wortwechsel mit einem Sportlehrer dessen Handgelenk gebrochen haben. Nach einer anderen Version waren Drogen im Spiel, wobei unsere Fantasie am meisten das Detail beflügelte, dass er sie im Scheinwerfer seiner Mobylette transportierte. Wie dem auch sei, es waren nicht nur der lange schwarze Regenmantel und die anständig gebügelten Hemden und Sakkos, die Max von den meisten anderen Schülern auf dem Erasmus-Gymnasium unterschieden.
    An jenem Mittag auf der Toilette bat Max G. mich um drei Blättchen. Ich hatte mich aus der Sozialkundestunde verdrückt, um eine zu rauchen. Max stand am Waschbecken und hielt die Hände unter den Wasserstrahl. Ich starrte auf die Manschettenknöpfe
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