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Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe

Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe

Titel: Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
Autoren: Die Gabe
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    APRIL
     
     
     
    1 . Dr. Alan Bulmer
     
    »Tut das weh?«
    Alan stach mit einer Nadel sachte in die Haut ihres rechten Beines.
    In den großen Augen der Frau zeigte sich Furcht, als sie den Kopf schüttelte.
    »Oh mein Gott, sie spürt es nicht!«
    Alan wandte sich der Tochter zu, deren Gesicht den gleichen schmutzig-weißen Farbton hatte wie der Vorhang, der den Raum von der Notaufnahme abteilte.
    »Würden Sie bitte eine Minute draußen warten.«
    Die Tochter fand den Schlitz im Vorhang und verschwand.
    Alan wandte sich wieder der Mutter auf der Liege zu und musterte sie. Er rief sich die Informationen wieder ins Gedächtnis, die er über Helen Jonas hatte. Das war nicht viel. Typ-2-Diabetes und leicht erhöhter Blutdruck. Sie war vor zwei Jahren das letzte Mal in seiner Praxis gewesen, und damals hatte ihre Tochter sie dahin geschleift. Aber jetzt, vor einer halben Stunde, hatte Alan zu Hause gesessen und eine Zeitschrift gelesen, als der Anruf von der Notaufnahme kam, dass dort eine Patientin von ihm sei, die weder gehen noch sprechen könne.
    Obwohl er bereits nach wenigen Minuten zu einer Diagnose gekommen war, führte er die Untersuchung zu Ende. Er bewegte die Nadel zu Helens rechtem Handrücken.
    »Und wie ist das?«
    Sie schüttelte wieder den Kopf.
    Er beugte sich über sie und berührte mit der Nadel die linke Hand. Sie zuckte zurück. Dann fuhr er mit seinem Daumennagel über ihre nackte rechte Ferse bis hin zur Fußsohle. Die Zehen richteten sich auf. Er nahm ihre rechte Hand und wies die Frau an, seine Hand zu drücken. Die Finger bewegten sich nicht. Er ließ wieder los, und der Arm fiel kraftlos auf die Matratze zurück.
    »Lächeln Sie!«, sagte er und grinste sie an.
    Die Frau versuchte, es ihm gleichzutun, aber nur die linke Gesichtshälfte reagierte. Die rechte Wange und die rechte Mundhälfte blieben unbeweglich.
    »Und wie ist es mit den Augenbrauen?« Er bewegte seine im Stil von Groucho Marx.
    Beide Brauen der Frau bewegten sich entsprechend.
    Er horchte Herz und Puls ab – normaler Rhythmus, keine Unregelmäßigkeiten, keine Aussetzer.
    Alan richtete sich auf.
    »Sie hatten einen Schlaganfall, Helen. Eine Ader …«
    Er hörte ihre Tochter hinter dem Vorhang »Oh nein!« rufen, aber er sprach weiter. Um sie würde er sich später kümmern. Helen zu beruhigen, war jetzt wichtiger.
    »Eine Arterie auf der linken Hirnseite ist verstopft, und daher haben Sie die Kontrolle über Ihre rechte Körperhälfte verloren.«
    Die Stimme tönte wieder durch den Vorhang: »Oh mein Gott, ich wusste es! Sie ist gelähmt!«
    Warum hielt sie nicht den Mund? Es war verständlich, dass die Tochter Angst hatte, aber die war im Moment nicht sein wichtigstes Anliegen, und im Augenblick machte sie die schlimme Lage ihrer Mutter nur noch schlimmer.
    »Ich kann nicht sagen, wie lange das anhalten wird, Helen. Sie werden wahrscheinlich einen Teil Ihrer Kraft zurückbekommen; vielleicht die ganze, vielleicht überhaupt keine. Wie viel und wann das sein wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen.«
    Er nahm ihre gesunde Hand in seine. Sie drückte sie. »Wir werden Sie jetzt nach oben bringen, und morgen früh beginnen wir mit einigen Tests. Außerdem fangen wir sofort mit Physiotherapie an. Wir werden uns um Sie kümmern und Sie gründlich durchchecken, wenn Sie schon mal hier sind. Der Anfall ist passiert, also verschwenden Sie keine Zeit darauf, sich Sorgen zu machen. Er ist vorbei. Von nun an arbeiten Sie daran, dass Sie wieder Ihren Arm und Ihr Bein gebrauchen können.«
    Sie lächelte mit einer Gesichtshälfte und nickte. Schließlich entzog er ihr seine Hand und sagte: »Entschuldigen Sie mich.« Er drehte sich um und ging zur Tochter, die hinter dem Vorhang Selbstgespräche führte.
    »Was soll ich jetzt bloß tun? Ich muss Charlie anrufen! Ich muss Rae anrufen! Was soll ich bloß tun?«
    Alan legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie leicht. Sie zuckte zusammen und hörte auf zu jammern.
    »Sie sagen jetzt nichts mehr, in Ordnung?« Er redete leise auf sie ein. »Sie regen sie nur auf.«
    »Aber was soll ich nur tun? Ich muss so viel tun! Ich muss …«
    Er drückte sie wieder, dieses Mal ein wenig stärker. »Das Wichtigste ist jetzt, ihr beizustehen und ihr zu sagen, dass sie eine Zeit lang bei Ihnen wohnen kann, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen ist, und dass Sie die ganze Familie über die Osterfeiertage einladen werden.«
    Sie starrte ihn an. »Aber ich kann doch nicht
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