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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Autoren: Gerbrand Bakker
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ungepflasterten Straßen zurechtfinden. Zum ersten Mal gehe ich hier zu Fuß, nehme Abkürzungen, die ich noch nicht kannte. Wir bewegen uns sonst fast nur mit dem Auto fort, meistens fährt Jaap, immer ganz langsam. Zwei alte Männer im Urlaub in einem fremden Land; vielleicht sieht uns manchmal eine ältere Dänin im Schneckentempo vorbeifahren und denkt dann: Ach, sie sind allein, ob sie Witwer sind? Vor den Häuschen liegen tadellos gepflegte Rasen. Überall sehe ich Dänen mit Astscheren, Handmähern und Hacken arbeiten. Ich würde nicht mähen, wenn es kurz vorher noch geregnet hat, aber ich bin ja auch kein Däne. »Hej«, sagen sie zu mir. Es riecht nach Harz und Holzfeuern. Ich bin weg von zu Hause, ich bin in einem anderen Land, das ich vorher nur als flache Karte kannte, ohne Gerüche und Formen. In gewisser Weise gefällt mir Eselmann besser alsHelmer. In dem Gewirr von Wegen und ungepflasterten Straßen gibt es natürlich auch viele Kreuzungen. Auf einer Weide grasen ein paar Islandpferdchen. Als ich auf dem Weg neben der Weide bin, kommen sie an den Elektrozaun. Ich bleibe nicht stehen, um ihre Nasen zu streicheln. Daß ich nicht in gerader Linie auf die Sonne zugehen kann, macht die Sache schwierig, dauernd muß ich mich zwischen rechts und links entscheiden, bevor ich wieder auf eine Straße komme, die nach Westen führt. »Hej«, sage ich zu einer freundlichen Frau mit Hund und frage sie dann auf englisch nach dem Weg. Die Richtung stimmt jedenfalls. Die Frau erinnert mich an Mutter.
    Ich hatte gehofft, auf einer der Nebenstraßen zum Heather Hill Grill zu finden, aber daraus wird nichts. Ungefähr auf halbem Weg zwischen Dorf und Heather Hill komme ich auf die frisch asphaltierte Küstenstraße. Es gibt keinen Rad- oder Fußweg. Vor mir liegt ein Campingplatz; noch sind nicht viele Zelte aufgebaut, und niemand springt auf den Trampolinen im Gras. Fünf Autos kommen mir entgegen, drei kommen von hinten. Der Himmel färbt sich schon leicht orange, ich lege einen Schritt zu. »Idiot« ist das Wort, das ich höre, wenn ich an Henk denke, obwohl in den achtzehn Jahren davor so viele andere Wörter ausgesprochen worden waren. Der Grill ist geschlossen, der kleine Parkplatz leer, die Holztische, an denen sonst Würste gegessen werden (pølser heißen die hier), sind nicht besetzt. Ich wende mich nach rechts und öffne das Schafgatter. Ein paar Minuten später stehe ich auf dem Geröllstrand.

    Ich hebe die Hand, um zwischen den Fingern nach der Sonne zu schauen. Die hängt eine halbe Daumenlängeüber dem spiegelglatten Wasser. In größerer Entfernung rechts sind die Häuser des Dorfs zu sehen, die man auf den Dünen gebaut hat. Davor liegen ein paar grellbunte kleine Fischerboote am Strand. Postkartenalltag. In größerer Entfernung links ragt ein hohes Kliff – höher als Heather Hill – ins Meer, der Geröllstrand endet davor; eine Holztreppe führt zu einem schwarz gestrichenen Ferienhaus mit Veranda hinauf. Am Strand ist niemand. Keine einzige Nebelkrähe ist in der Luft, auch die wuseligen kleinen grauen Strandläufer sind jetzt nicht da. Keine Flugzeuge, keine Schiffe, keine Bohrinseln. Ich ziehe meine Hose aus und wate ein Stückchen ins Meer, auf dem Pfad, den wir erst heute morgen wieder freiräumen mußten. Ich bin weit und breit der einzige, der Geräusche macht. Hinter mir, denke ich, sehr weit hinter mir liegt das IJsselmeer, in dem niemals die Sonne untergehen kann. Als ich bis zu den Knien im Wasser stehe, verschränke ich die Arme und drehe mich ein wenig nach links, zur Sonne, die jetzt eine Nagellänge über dem Horizont steht. Als ihre Unterseite wie warmes Wachs ins Wasser zu schmelzen beginnt, drehe ich mich um, gehe zum Kliff und klettere hinauf. Oben auf Heather Hill setze ich mich hin, und erst dann sehe ich unten meine Hose liegen, einsam zwischen den Steinen, wie von einem Selbstmörder zurückgelassen.
    Es geht schneller, als ich gedacht hatte. Eigentlich ist es nicht so, daß die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, eher wird der orangefarbene Ball vom Meer verschluckt. Warme Luft streift meinen Hals. Es dauert einige Zeit, bis mir klar wird, daß das nicht der Wind sein kann, Wind weht nicht in so regelmäßigen, kurzen Stößen. Ganz langsam drehe ich mich um. Keine zwanzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, auf gleicher Höhe, ist der dunkle Kopf eines Hängeohrschafs.Es schaut mich unbewegt an; die Pupillen seiner gelben Augen sind nicht rund, sondern fast
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