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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Autoren: Gerbrand Bakker
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kommt fast nie jemand hin, und wenn doch, kümmert uns das auch nicht. »Dafür sind wir zu alt«, sagt er. Dann nicke ich; und wie Knirpse im Schwimmbad kommentieren wir das Aussehen unserer Säcke, wenn sie im kalten Wasser verschrumpelt sind. Er kannes nicht lassen, mir Anweisungen zu geben. »Schließ die Finger«, oder »Laß doch deine Beine auch mal was tun.« Hinterher spielen wir – ein bißchen steif, er etwas steifer als ich – im Garten unseres Ferienhauses eine Partie Federball, um wieder warm zu werden. Die Schläger und Federbälle hat er im Spar-Laden aus dem Regal genommen. Ich habe sie bezahlt.

    Vater hat vier Nächte im Haus gelegen. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal angefaßt.
    Als wir ins Wohnzimmer kamen, hatte Jaap sich sofort auf den Küchenstuhl neben dem Sarg gesetzt. Ich war an der Tür stehengeblieben. Er drehte sich eine Zigarette, vielleicht, weil er auf der Sofalehne einen Aschenbecher stehen sah. Beim Rauchen schaute er Vater an. Von Vater blickte er zu den Fotos auf dem Kaminsims. »Sie war eine hübsche Frau, auf ihre Art«, sagte er mit einem Kopfnicken zu Mutters vornehmer Fotografie. »Ich glaube, das haben nicht viele gesehen.« Im Wohnzimmer bildete sich ein waagerechter Rauchschwaden. Wenn ich neben dem offenen Sarg geraucht habe, und das habe ich ziemlich oft, ist mir das nie gelungen.
    »Bist du allein?« fragte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Hier ist es ganz anders als früher.«
    »Das hab ich gemacht, vor ein paar Monaten.«
    »Vor ein paar Monaten erst?«
    »Ja.«
    Er nahm ein paar kräftige Züge und nickte dann noch einmal zum Kaminsims hin. »Toter Bruder«, sagte er zu Henks Foto. Er drückte die Zigarette aus und legte seine Finger mit der Oberseite leicht auf Vaters Stirn. Dann stand er auf und gab mir die Hand, die Hand mit denFingern, die den kalten Körper berührt hatten. »Dein Vater ist tot, Helmer«, sagte er.
    Er gab mir keinen Kuß auf den Mund, obwohl jetzt wirklich jemand gestorben war.
    Dein Vater ist tot: als hätte ich das noch nicht gewußt. Hübsche Mutter, toter Bruder, toter Vater. Zwanzig Kühe, etwas Jungvieh, zwei Esel ohne Namen, zwanzig Mutterschafe, einunddreißig Lämmer und ein paar Lakenvelder Hühner.
    »Ist das Kaffee, was ich da rieche?« fragte er und ging in die Küche. Dort setzte er sich nicht auf den erstbesten Stuhl; er ging um den Tisch herum und nahm mit dem Rücken zum Seitenfenster Platz. Auf Henks Stuhl. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, als würde er ungeduldig auf eine Tasse Kaffee warten. Etwas verwundert betrachtete er die Becher, aus denen Ada und ich getrunken hatten, die aufgerissene Packung Mandeltörtchen, das Fernglas. Er sagte, es wäre das erste Mal, daß er am Küchentisch säße. Ich stand noch an der Wohnzimmertür und blickte von seinen trommelnden Fingern zu Vaters Stirn und von Vaters Stirn auf meine Hand.

    Ich gab ihm nicht sofort eine Tasse Kaffee. Ich ging ans Vorderfenster. Die Nebelkrähe saß auf ihrem angestammten Platz und starrte mich an. Sie senkte leicht den Kopf und schien die Schultern hochzuziehen. Ich überlegte, ob Vögel Schultern haben, ob man den vorstehenden Knick des zusammengelegten Flügels Schulter nennen kann. Sie erinnerte mich an ein Tier, das schleichen kann, ein katzenhaftes Tier. Seit dem vergangenen Herbst saß der Vogel nun schon da draußen; manchmal hatte ich ihn vergessen, manchmal hatte ich ihn gesehen, und jetzt war es wie an dem Tag im Herbst,an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und mich auf alle Stühle gesetzt hatte, als ob ich versuchen würde, zu viert zu sein, um nicht allein essen zu müssen. Sie zog die Schultern noch etwas höher und ließ sich fallen. Erst knapp über dem Boden breitete sie die Flügel aus. Ich machte einen Schritt rückwärts, ich dachte, sie würde durch die Scheibe gesegelt kommen. Bei der scharfen Wende, die sie fliegen mußte, berührten ihre Flügelspitzen die Scheibe. Dann begann sie richtig zu fliegen. Sie flog auf den Deich zu, aufs IJsselmeer. Ich schaute ihr nach, bis ich Tränen in den Augen hatte.
    Er räusperte sich. Ich drehte mich um. Ja, er hätte gern einen Kaffee, mit Zucker, ohne Milch, und ja, zu so einem Mandeltörtchen sage er auch nicht nein.

    Tot ist tot. Weg ist weg, und dann weiß ich von nichts mehr. Ich war also nicht der einzige, der an Vaters Beerdigung teilnahm. Eine Beerdigung ist nicht für den Toten, sondern für die, die zurückbleiben; ich fand es egoistisch von Vater, daß er in
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