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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman
Autoren: Silvia Bovenschen
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sich nach Nadines Abgang einem Artikel im Feuilleton der Zeitung zugewandt hatte, legte das Blatt bald schon wieder zur Seite. Das Kurzporträt eines Literaten, der ein keusches medienabstinentes Einzelgängertum ausstellte, ließ sie an Johanna denken. Wer war diese Johanna eigentlich, diese Eremitin, mit der sie jetzt schon vier Jahre zusammenwohnte? Was ging in der vor? Wie befand sie sich den ganzen Tag da in ihrer verqualmten Bude? Wie krank war sie? Was konnte sie noch, was nicht?
    Sie las, hörte Musik, sah Filme auf DVD, war auch digital gut unterwegs und schrieb, was auch immer, für wen auch immer. Wenn man es recht bedachte: So elend war deren Leben auch wieder nicht.
    Andererseits erinnerte sich Leonie, wie Johanna einmal ihr derzeitiges Befinden beschrieben hatte. Nein, eine Beschreibung war das nicht gewesen, eine kurze, seltsame, ja abgründige Äußerung. Ein oder zwei Sätze nur. Wenige Worte. Die waren schlicht, geradezu kahl. Die waren sogar ihr, der traurigen Leonie, durch Mark und Bein gegangen. Es war ihr ganz kalt geworden. Diese Worte selbst jedoch hatte sie schlankweg vergessen. Das Gespräch, so viel wusste sie noch, hatte in der Bibliothek stattgefunden. Ja, das wusste sie ganz genau. Sie sah das Bild vor sich, wie sie da gestanden hatten vor den Büchern. Johanna hatte eine blau-rot karierte Flanellbluse getragen, die bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel gereicht hatte. Sie hatten sich zufällig getroffen …
    Was, um Himmels willen, hatte Johanna gesagt? Es fiel ihr nicht mehr ein. Aber das war doch absurd! Oh, diese erbärmliche und eigenwillige Regie des Gedächtnisses! Wie war es möglich, dass sie sich so genau an ihre Erschütterung erinnern konnte, nicht jedoch an die Worte, die sie erschüttert hatten?
    Lohnten sich die Überlegungen überhaupt? Was konnte diese halbirre Ruferin schon gesagt haben?
    Ob Johanna sich mit dieser elenden Ruferei irgendwie entlastete? Musste man darin vielleicht eine verkürzte Schöpfungsanklage sehen?
    In der letzten Zeit hatte Leonie immer häufiger über ihre Mitbewohnerin nachgedacht.

Draußen
    Jetzt aber war sie vorübergehend abgelenkt. Sie sah aus dem Fenster. Ihr Blick war gefangen von einem herrenlosen Hund. Sie hatte ihn schon drei- oder viermal auf der Promenade gesehen.
    Ein sehr altes Tier. Ein gewaltiges Tier. Ein mächtiger Körper, ein mächtiger Schädel. Vermutlich eine Mischung aus Dogge und Pitbull, aber sie kannte sich da nicht so gut aus mit den Rassen. Die Spaziergänger wichen ihm weiträumig aus. Das Tier ignorierte sie. Es ging schleppend. Die Überwindung eines kleinen Hindernisses machte ihm sichtlich Mühe. Vermutlich Arthrose.
    Sein dreieckiger Schädel mit den schräggestellten Augen war weiß, bis auf kleine schwarze Partien an den Ohren. Irgendetwas ließ das Tier den schweren Kopf heben, und es schien, als sähe es mit leicht geöffnetem Maul zu ihr herüber, als habe es ihre Witterung aufgenommen. Sie konnte seinen schwarzen Nasenspiegel und die blutroten Innenränder seiner Lefzen erkennen.
    Das Tier sieht gar nicht aus wie ein Hund, dachte Leonie. Es sieht aus wie ein unbekanntes Wesen aus lange vergangener Zeit. Urweltlich. Eine Gattungsüberschreitung. Dieses Tier hat Würde, dachte sie.
    Das Tier rührte sie, und für einen kurzen Moment fühlte sie sich ihm innig verbunden.
    Seltsam.

Salon (kurz darauf)
    Warum dachte Leonie so oft über Johanna nach? Die Antwort war schnell gefunden.
    Leonie vermutete, ja fürchtete eine Art Verwandtschaft. Würde auch sie sich mehr und mehr in Johannas Richtung entwickeln?
    Manchmal schien ihr diese abgeschottete Lebensweise – nur unterbrochen durch die eruptive Ruferei – attraktiv.
    Leonie rief zwar nicht, aber sie murmelte. War dieses Gemurmel vielleicht nur eine Vorform von Johannas Rufen?
    Leonie murmelte auch jetzt und dachte zugleich darüber nach:
    Was war das, was sie da immer murmelte? Waren es ganze Wörter, waren es klare Bilder oder nur noch die schon fernen Klänge lange vergangener Tage? Tonlagen der Verflüchtigung?
    Leonie summte oder murmelte in sich hinein. Das hatte sie sich angewöhnt in den Jahren ihrer gewollten Einsamkeit. Einsam und abgeschieden war sie seit dem frühen Tod ihres Mannes und der beiden Kinder immer leiser geworden, war fast verstummt. Nur im Murmeln und Summen war sie in einer verdunkelten Wohnung für sich und andere noch wahrnehmbar gewesen. So war das gewesen, bevor Charlotte sie, ihre Widerstandsunfähigkeit ausnutzend, mit
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