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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman
Autoren: Silvia Bovenschen
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ihre Leiden klagen, sondern sie auch noch mystifizieren. Lass dir von deinem Neurologen erklären, was da bei dir kaputt ist.«
    »Es ist schön, sich von Menschen umgeben zu wissen, die sich einfühlen können.«

Bibliothek (kurz darauf)
    Flocke saß weiterhin verkrampft auf seinem Stühlchen. Hin und wieder, ohne dass es ihm bewusst war, legte er seine Hand an die schmerzende Backe.
    Als Charlotte leise hereingekommen war und er sie erst wahrgenommen hatte, als sie steil aufragend neben seinem Stuhl stand, war er erschrocken hochgefedert und hätte sich gern mit seinem vollständigen Namen vorgestellt, aber da hatte ihn Dörte schon als »Flocke« angesagt, und Charlotte hatte fest seine Hand gedrückt und hatte »Willkommen« gesagt und »Ich bin Dörtes Großmutter«. Dann hatte sie sich schnell abgewandt und eine kurze Zeit suchend vor einer Bücherwand gestanden.
    Jetzt, da sie gefunden hatte, wonach sie suchte, nickte sie ihm noch einmal kurz zu und verließ den Raum, ein dickes Buch in der Hand.
    Flocke setzte sich wieder.
    Das folgende Gespräch mit Dörte über neue Bands, die man nur ätzend finden konnte, war häufig ins Stocken geraten. Sie gab sich unbefangen, war es jedoch nicht und steigerte sich daher mehr und mehr in ihre sonderbaren Lautgebungen.
    Er aber hatte sich etwas beruhigt und tastete sich zu den Fragen vor, die ihm auf der Seele brannten.
    »Siehst du Freddie noch?«
    »Wie denn? Der is doch im Knast. Außerdem: Der is Geschichte. Forget him. Lösch-Taste. Verstehste? Ich starte noch mal durch. Ich erfinde mich jetzt ganz neu. Vergiss die Dörte, die du kennst, vergiss die alte Dörte. Am Sonntag war ich sogar in der Messe im Dom. War son Spaß. Wollte das nur mal austesten. Ist ja gleich nebenan, die Betbude. Du glaubst nich, was da abgeht. Die Katholen wissen echt, wo’s langgeht. Da is ein Megaspirit. Ultracool.«
    Flocke wunderte sich.

Drinnen
    Der sogenannte Salon war der größte Raum in der Villa. Er wurde von den regellos herumschwirrenden Bewohnerinnen gemeinsam genutzt. Ein elegantes Wohnzimmer in den Ausmaßen eines Tanzsaals. Vier große Flügelfenster gaben den Blick auf die Uferpromenade und den Fluss frei. Die kostbaren antiken Teppiche, die einst den Boden bedeckt hatten, waren entfernt worden, da Charlotte in ihnen gefährliche Stolperfallen gesehen hatte. Alte Menschen, Bewohner wie Besucher (möglicherweise frisch versorgt mit künstlichen Hüften und Knien, am Stock oder, im Fall schlimmerer Gebrechen, im Rollstuhl), sollten sich auf dem prunkvollen Tafelparkett hindernisfrei bewegen können. In einer Ecke stand ein Blüthner-Flügel, auf dem Charlotte gelegentlich spielte. (An diesem besonderen Tag würde sie das sicher nicht tun.) An der gegenüberliegenden Seite hob sich ein großer Flachbildfernseher fremd von antikem Mobiliar ab. Drei Sitzgruppen luden zur Geselligkeit ein.
    Hier fanden sich die alten Frauen hin und wieder, ohne Verabredung. Jedenfalls drei von ihnen, denn Johanna hatte in letzter Zeit kaum je ihr Zimmer verlassen. Und Sexy-Dörte fühlte sich in diesem Raum mit den komischen Möbeln nicht wohl, schon gar nicht in Gegenwart der alten Frauen, die sich in ihrer veralteten Sprache über veraltete Sachen unterhielten. Sie spürte sehr wohl, dass sie in diesem Raum bestenfalls das Objekt amüsierter, meistenteils jedoch angewiderter Betrachtungen war.
    Die Villa war Charlottes Elternhaus. Dessen großzügige Ausmaße und sein Komfort milderten ihre stilistischen Bedenken gegen den historistischen Zuckerbäckerstil. Ihre Urgroßeltern hatten es im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert erbaut. Sie, Jahrgang 1929, war in Bezeichnungen wie »Salon« noch hineingewachsen. Aufmerksame Beobachter hätten aber bemerken können, dass sie dieses Wort verfallsbewusst nicht ohne Ironie aussprach.

Salon (10 Uhr 33)
    Hier machte sich Nadine, die sich in ihrem Drang zu Höherem immer freute, von »unserem Salon« sprechen zu können, an einem Blumenstrauß zu schaffen. Leonie, die inzwischen im Parterre angekommen war, betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Skepsis.
    »Das Gezupfe macht mich nervös. Jetzt arrangierst du schon zum dritten Mal diesen armseligen Strauß, obwohl es da gar nichts zu arrangieren gibt, an diesen paar kahlen Stengeln mit den müden Blüten, die herunterhängen wie kranke Tintenfische. Lass um Gottes willen die armen Blumen in Ruhe.«
    Nadine ignorierte sie. Demonstrativ wandte sie ihr den Rücken zu. Leonie, die eine
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