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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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Felsenbesitzers gehängt hätten und wieder einholten, bevor er an den Strand kam, das heißt, gleich mit Einsetzen der nächsten Ebbe. Hatten sie sich mit dem Fang in ihren eigenen Reusen begnügt? Oder hatten sie sich auch Apraiz’ Fische unter den Nagel gerissen? … Hm, das macht ihn natürlich der Tat verdächtig … Er ist allerdings nicht der Einzige, der ein Motiv gehabt hätte, es den skrupellosen Brüdern heimzuzahlen.
    Das Verbrechen ereignete sich 1935, und vermutlich hängt die Tatsache, dass Polizei und Untersuchungsrichter sich damals kein Bein ausrissen – zwei, drei fruchtlose Verhöre, und das war’s –, damit zusammen, dass der Mord keinen politischen Hintergrund hatte. Weshalb der Täter noch heute, zehn Jahre danach, mitten unter uns lebt! Warum haben wir alle, ich eingeschlossen, dieses ungeklärte Verbrechen bloß so viele Jahre vergessen? »Bei den hohen Verlusten kommt es für die Basken auf einen Toten mehr oder weniger auch nicht mehr an«, hätte Franco erklärt, würde man ihn dazu befragen. Und er hätte recht: Aufgrund des Bürgerkriegs und der anschließenden Repression haben wir viel zu viele Tote zu betrauern, als dass es uns heute noch interessiert, wer vor einem Jahrzehnt einen Menschen ermordet hat, der uns von jeher ein Dorn im Auge gewesen ist. Zwar war Leonardo der Sohn des unbescholtenen Roque Altube, doch waren er und sein Bruder die schwarzen Schafe der Familie und schon in jungen Jahren durch ihre Gaunereien in Verruf geraten …
    Voller Elan stapfe ich weiter durch den Sand. Er ist nicht fein und hell, sondern dunkel und grobkörnig wegen der Hochofenschlacke, die von den Kuttern der Hüttenwerke im offenen Meer entsorgt und von der Strömung wieder anden Strand gespült wird. Sie enthält kleine Brocken Koks, die mittellose Familien aufsammeln, um damit ihre Öfen zu befeuern – und die Eladio und Leonardo in einem unbeobachteten Moment stahlen. Ja, die Altube-Brüder waren wahrlich Blutsauger …
Blutsauger:
Der Ausdruck gefällt mir, er bringt den Charakter der beiden Gauner auf den Punkt … wirklich erstaunlich, dass mir auf einmal solch treffende Formulierungen einfallen, zu schade, dass ich keinen Stift dabeihabe und das alles nur im Kopf fabuliere, sonst hätte ich es nachher Koldobike vorlesen können. Der neue Ton wäre ihr sicher sofort aufgefallen, ja, ganz bestimmt.
    Während die belebende Meeresluft meine Lungenflügel aufbläht, erinnert mich das Päckchen in meiner Hand plötzlich wieder daran, warum ich an den Strand gekommen bin. Passagen des Schunds kommen mir wieder in den Sinn. Warum kasteie ich mich selbst mit diesen Gedanken? … In seinem Büro in Los Angeles erhält Samuel Esparta einen anonymen Brief mit der Aufforderung, sich in einer gewissen Villa einzufinden, »in der in den folgenden vier Tagen ein Verbrechen geschehen wird«. Für den Fall, dass er den Mörder finde, stellt der Schreiber ihm eine erkleckliche Summe Dollars in Aussicht. »Mich laust der Affe!«, ruft mein Held überrascht. Ja, mit solch lächerlich klingenden Stilpatzern habe ich meine Geschichten immer kaputt gemacht: Nur ein Dilettant wie ich legt einem hartgesottenen Privatdetektiv, der von Schlägereien über Schusswechsel, Messerstechereien bis hin zu Morden schon alles gesehen hat, ein »Mich laust der Affe!« in den Mund. Und es war ja nicht nur der eine oder andere ungeschickte Ausdruck, nein, auch das ganze Handlungsgerüst habe ich stets verkorkst. Koldobike hat das schon vor langer Zeit erkannt, wohingegen ich erst jetzt … wenn ich nur daran denke, dreht sich mir der Magen um … Jedenfalls ist noch niemand tot, als Samuel in der Villaeintrifft. Statt den potenziellen Mörder zu suchen, macht er sich gleich daran, seinen Auftraggeber in der illustren Gesellschaft ausfindig zu machen, die aus der Familie Baxter sowie zahlreichen Gästen besteht. Er mustert Gesichter, lauscht aufmerksam selbst den langweiligsten Unterhaltungen, verfolgt jede einzelne Bewegung des bunten Völkchens, das durch die Salons flaniert, denn er ahnt, dass derjenige, der ihm den Brief geschrieben hat, das Mordopfer sein wird. Als er ein Augenpaar auf sich gerichtet spürt, tritt er einmal sogar die Flucht nach vorn an: »Sind Sie der Hellseher?« Worauf der Angesprochene ihm mit einem »Mich wundert, was Sie hier verloren haben, ganz ohne Frack!« grummelnd den Rücken kehrt.
    Samuel will sein Honorar, solange sein Auftraggeber noch am Leben ist. Die Frage ist nur: Wird er ihn
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