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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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rechtzeitig finden, bevor der Mörder zur Tat schreitet? Vier Tage und vier Nächte lang stellt er Gästen und Familienmitgliedern scheinbar harmlose Fragen, liest klammheimlich Briefe und Tagebücher, blickt hinter Gemälde, durchwühlt Blumentöpfe, fischt zerknüllte Zettel aus Aschenbechern und folgt vornehmen Damen bis zur Toilettentür: Ja, er arbeitet hart, und er will dafür seinen Lohn. Den er natürlich auch bekommt: Auf seiner letzten nächtlichen Runde hört er auf einmal katzenpfötchenleise Schritte. Er schleicht ihnen nach und erblickt, gerade noch rechtzeitig, den Schatten eines Arms, der mit einem bronzenen Kerzenleuchter der Patriarchin den Schädel einschlagen will, die in einem Sessel döst. »Sie hat also den Brief geschrieben!«, fährt es Samuel durch den Kopf, während er den Täter ausknockt und der Großmutter so das Leben rettet. An Ort und Stelle fordert er sogleich sein Honorar (aufgrund der guten Versorgung während des ausschweifenden Fests natürlich ohne Spesen), worauf sie meinem Helden einen Scheck über hundert Dollar ausstellt.In der Zwischenzeit ist auch die Polizei eingetroffen und nimmt den Enkel – den die Großmutter enterbt hatte – wegen versuchten Mordes fest. Auf die interessierte Frage von Detective Inspector McCorman, wie er ihm auf die Schliche gekommen sei, antwortet Samuel: »Ich bin zugelassener Privatdetektiv und habe da meine ganz eigenen Methoden.«
    Diese grandiose Geschichte befindet sich also in dem Päckchen, das ich gleich mit allergrößtem Vergnügen in die Fluten schleudern werde. Kurioserweise fühle ich mich dennoch wie neugeboren. Mehr oder weniger dürfte ich nun an der Stelle stehen, wo Lucio Etxe in jenen frühen Morgenstunden des Jahres 1935 Hilfeschreie vernahm. Obwohl er weit und breit niemanden sah, lief er sofort in die Richtung, aus der die abgehackten Schreie kamen, kletterte über die Steine zu der Klippe, wo er an der zum Meer hin gewandten Seite im Wasser einen Kopf erblickte, der mit schweren Ketten an Apraiz’ Eisenring befestigt war. Noch mehr erschrak er jedoch, als er tief unter dem Ertrinkenden einen zweiten Kopf entdeckte, dem die steigende Flut schon keine Zeit mehr zum Atemholen ließ. Verzweifelt zerrte Etxe an den Ketten, doch Eladio schrie: »Das ist sinnlos! Hol … den … Schmied!«, wenn die anbrandenden Wellen sich kurz zurückzogen und er nach Luft schnappen konnte. Worauf Etxe losrannte, über den Strand, den Hügel bergan, hinauf nach Cuatro Caminos.
    In Getxo hat man sich nie einigen können, wie lange er für den Weg zu Zallas Schmiede und zurück zu Eladio brauchte. Irgendeiner meinte zwar, dass jeder über eine Mauer springen könne, wenn ihm ein Stier auf den Fersen sei, dennoch glaubte man, dass Etxe für die Strecke mindestens zwanzig Minuten benötigt hatte. »Aber nur, wenn er an dem Tag nicht so lahmarschig war wie sonst«, hieß es damals und auch später noch am Kneipentresen von La Venta, und einigeFrauen und nicht wenige Männer hielten es sowieso für ein Wunder, dass Eladio überlebt hatte.
    Wie viele Minuten Antimo Zalla und sein Sohn für das Zersägen der Ketten brauchten und wen der Schmied zuerst befreite, Leonardo oder Eladio, bot ebenfalls Anlass zu Spekulationen. Die Mehrheit tippte auf Eladio, da der die größeren Überlebenschancen hatte, das heißt überhaupt welche; ob ihre Vorgehensweise nun logisch war oder nicht, interessierte die drei Männer in dem Moment aber sicher nicht im Geringsten, kämpften sie doch verbissen um das Leben zweier, wenn auch noch so unbeliebter Mitbürger.
    Wahrscheinlich haben die zitternden Hände des Schmieds einfach impulsiv mit Eladios Kette begonnen. Aufgrund der Anspannung und der anbrandenden Wellen brachen fünf Sägeblätter (manche behaupten, es seien vier oder sechs gewesen), bis Zalla, sein Sohn Tomasón und Etxe den Zwilling an den Strand schleppen konnten, wo sie ihn abwechselnd von Mund zu Mund beatmeten. Irgendwann muss einem der drei dann eingefallen sein, dass der zweite Zwilling ja auch noch an den Ketten hing, woraufhin sie wieder auf die Klippe kletterten, den Toten aus seinem feuchten Grab zogen und ihn dann neben seinen Bruder legten, der einen Schwall Meerwasser nach dem anderen erbrach. Als dieser den toten Leonardo erblickte, seien in seinen Augen mehr Tränen als Wasser gewesen, erzählte Etxe später, er habe sich auf ihn gestürzt und ihn geschüttelt, damit er wieder lebendig würde.
    Damit er wieder lebendig würde:
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