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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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mir! Unglaublich: Ich fabuliere ohne Feder und Papier, nur in meinem Kopf, doch ich erzähle eine Geschichte, daran besteht kein Zweifel. Oder sind das in meinem Kopf nur Spinnereien, die sich in Luft auflösen, sobald ich sie niederschreiben will? Die Feuerprobe für einen Schriftsteller ist bekanntlichdie Übertragung seiner schöpferischen Gedanken auf Papier – und das Einzige, was ich auf Papier habe, ist der auf meiner Underwood getippte Schund in meiner rechten Hand. Trotzdem besteht das, was ich bisher gedanklich »geschrieben« habe, aus Worten, und ein Wort bleibt immer ein Wort, ganz gleich, ob es nun im Kopf oder auf Papier festgehalten wird! … Doch warum klingen die Sätze, die mir gerade durch den Kopf gehen, so viel besser als mein bisheriges Geschreibsel?
    Die vier blieben bei dem Ertrunkenen, bis die ansteigende Flut sie dazu zwang, die Leiche weiter oben am Strand abzulegen. Daraufhin brummte der Schmied, man müsse die Obrigkeit verständigen. In der Stunde, die es sich hinzog, bis sein Sohn Tomasón mit Ermittlungsrichter, Arzt und Polizei zurückkam, konnten weder Zalla noch Etxe oder Eladio den Blick von Leonardos wachsbleichem Gesicht wenden …
    Die anschließenden Ermittlungen der Polizei aus Bilbao führten dann allerdings zu keinem Ergebnis. Die Familien, die diskret dazu befragt wurden, erzählten darüber so wenig, dass man im Dorf allein auf Vermutungen angewiesen war. Das Einzige, was durchsickerte, war, dass die Polizei Félix Apraiz zweimal aufsuchte, was aber niemanden weiter wunderte, schließlich gehörte dem Fischer der Eisenring. Danach vergingen Wochen und Monate, in denen wir rein gar nichts erfuhren, nicht einmal, ob sie jemanden in Verdacht hatten. Und mit Ausbruch des Bürgerkrieges verliefen die Ermittlungen endgültig im Sand, und die Sache geriet auch bei uns in Vergessenheit …
    So weit, so gut. Bis hierhin reicht die Geschichte, die ich im Kopf schreibe, mehr gibt meine Erinnerung einfach nicht her. Aber ich glaube, sie ist ziemlich gut. Dass ich das so klar beurteilen kann, ist sicher der ebenso unwiderruflichen wieschmerzhaften Tatsache geschuldet, dass ich meine bisherigen sechzehn Romane inzwischen für grottenschlecht halte.
    Seither sind jedenfalls zehn Jahre vergangen. Wie Félix Apraiz und Lucio Etxe heute wohl darüber denken? Und Eladio Altube? Oder seine Eltern, Roque und Madia Altube, sowie die übrigen Geschwister, Cenobia, Anastasia, Pelayo und Aurelio? Ob es Don Manuel, dem Dorflehrer, manchmal noch in den Sinn kommt? Oder Efrén Baskardo, dem Großindustriellen, bei dem die Zwillinge als junge Burschen gearbeitet und den sie schamlos beklaut hatten? Und die anderen Einwohner von Getxo, die hin und wieder zum Baden oder Fischen an den Strand gehen: Erinnern sie sich daran, wenn ihnen der Eisenring ins Auge fällt? Ergreift sie dann vielleicht wie mich ein leichter Schauder, weil der, der den Mord begangen hat, noch immer unerkannt mitten unter uns lebt? Mein starker, geheimnisvoller Romananfang verdient wirklich eine Fortsetzung, und zudem braucht jede Geschichte ein Ende – und diese hat keines.
    Der Roman in meiner Hand hingegen schon. »Was nichts taugt, runter vom Wagen!«, rufe ich, wie wir das in Getxo in solchen Fällen immer tun, und kreise meinen Arm wie einen Windradflügel. Und dann fliegt das Päckchen mit meinen pseudoliterarischen Ergüssen auch schon in hohem Bogen aufs offene Meer hinaus und taucht mit einem dumpfen Platsch ins Wasser.
    Doch was nun? Eine Lebensphase wäre abgeschlossen, und das Mindeste, was mir das Schicksal jetzt gönnen müsste, wäre eine kleine Ruhepause, bevor ich etwas Neues ins Auge fassen kann. Ich lasse mich in den Sand fallen, und tatsächlich gelingt es mir, die Augen zu schließen und so nicht länger Apraiz’ Felsen zu sehen und mir den Eisenring daran vorzustellen, den sicher schon der Rost zerfressen hat. Wie lange war ich dem Schreibwahn verfallen? Mein erstes Opusverfasste ich 1939 … das heißt, ich habe sechs ebenso glückliche wie verlorene Jahre damit zugebracht Meine Mutter wird jedenfalls froh sein, dass ich nicht mehr länger Schimären nachjage und auf den Boden der Wirklichkeit zurückgekehrt bin: »Endlich bist du zur Vernunft gekommen! Es ist wirklich besser, du kümmerst dich um deine Buchhandlung, davon kannst du zumindest leben.«

2 Beltza
    Die Kirchenglocken von San Baskardo holen mich in die Realität zurück. Ich springe auf. Koldobike hat den Laden sicher schon
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