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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt
Autoren: Stefanie Zweig
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vor schöne indische Frauen mit klimpernden Goldreifen am Arm und großäugigen Kindern an der Hand und vor die jammervoll klagenden Bettler mit eiternden Wunden an Kopf und Gliedern. Auf geregte Kikuyufrauen schleppten prall gefüllte Säcke und quetschten protestierende Hühner unter die Achseln. Demütig folgten sie ihren Ehemännern. Die trugen auf Hochglanz polierte Lederschuhe und eilten mit großen Schritten in die westliche Welt.
    »Weinst du Papa?«, flüsterte Regina.
    »Nur ein ganz kleines bisschen«, gestand der Vater, der von seinem Vater gelernt hatte, dass ein deutscher Junge nicht weinen durfte.
    Sie schwiegen, bis der Zug abfuhr. Ein jeder von ihnen zupfte am kleinen Max herum. Jettel knöpfte sein Jäckchen auf und falsch wieder zu, Walter schlug ihm so kräftig auf die Schulter, dass er zur Seite rutschte, und Regina kämmte ihrem Bruder das Haar mit einer silbernen Bürste, auf der ihr Namen eingraviert war, denn die Bürste war ein Geschenk ihrer Großmutter zu ihrem ersten Geburtstag gewesen. Das Abteil war kühl und dunkel. Die, die in ihm Abschied von ihrem afrikanischen Leben zu nehmen hatten, waren die Stille nicht gewohnt und schon gar nicht die Einsamkeit, die ihr innewohnt, wenn die Zeit stillsteht und die Vergangenheit sich in Bilder aufteilt, die das Gemüt quälen.
    Ein Blechgong wurde geschlagen. »Chai«, rief eine Männerstimme. Es duftete nach frisch aufgebrühtem Tee und Ingwerkuchen. Reginas Nase erreichte eine Botschaft aus untergegangener Zeit. Sie stand für Aufbruch und Hoffnung. Nach einigen Minuten erinnerte sich die Vierzehnjährige tatsächlich an das ängstliche fünfjährige Mädchen mit dem Plüschaffen Fips und der schwarzen Puppe Josephine. Auch der liebevolle Kellner fiel ihr ein, der ihr im Zug von Mombasa nach Nairobi Tee und Ingwerkuchen auf einem Silbertablett gebracht und ihr im Morgengrauen die Affen und die Giraffen gezeigt hatte.
    »Ich finde es schön, dass wir Fips noch haben«, sagte Regina.
    »Du bist so sentimental wie dein Vater«, brummte Walter, »du wirst es im Leben nicht weit bringen.«
    Der Kind, das vor drei Tagen seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte, schlief auf einem der nach Lavendel duftenden weißen Kissen, die schon für die Nacht bereitlagen. Sein Vater, die Mutter und seine Schwester saßen steif auf den gepolsterten Sitzbänken und verkrampften ihre Hände. Sie scheuten sich, einander anzuschauen. Mit Augen, die noch feucht waren, aber doch schon wieder vom Salz der Trauer brannten, starrten sie zum Fenster hinaus. Sie sahen, wie sich die Häuser von Nairobi in dem grauen Abenddunst auflösten, der typisch war für die Stadt.
    Nach nur wenigen Minuten öffnete sich die Landschaft. Am Rande großer Maisfelder wuchsen Dornakazien. Buben in zerlumpter Kleidung hüteten das Vieh von Farmern, die sie nicht kannten. Kälber drückten sich an die Mutterkühe, die Bärte der Ziegen waren noch im Dämmerlicht zu erkennen. Erst tauchte ein großes weißes Gebäude auf, das von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war, bald die runden Hütten der Farmangestellten. Mit ihren geflochtenen Dächern glichen die Hütten denen in Ol’ Joro Orok. Den Bildern, die in Nairobi vergilbt waren wie verdorrte Blätter, gaben sie die Farbe zurück.
    Vor den Hütten scharrten Hühner. Feuerstellen glühten. Junge Mädchen mit Eimern auf dem Kopf kamen einen Hügel herauf. Obwohl Reginas Sinne nicht gelernt hatten, in einem fahrenden Zug Beute zu machen, stellte sie sich vor, wie die Frauen bald aus den Hütten herauskommen würden, um in breiten braunen Schüsseln das Ugali für den Abend zu rühren. Eine Zeit lang wehrte sich die kleine Memsahib aus Ol’ Joro Orok gegen die Klauen der Sehnsucht, auf Dauer konnte sie es nicht verhindern, dass sie die Männer jene Schauris des Tages erzählen hörte, aus denen in der Nacht Heldentaten wurden, für die selbst Gott Mungu seine Ohren öffnete.
    »Es ist das erste Mal seit Leobschütz«, sagte Walter, »dass die ganze Familie zusammen in einem Zug sitzt. Wir haben lange auf diesen Tag warten müssen.« Seine Stimme war fest, doch er rieb seine Hände aneinander. Waren sie noch kalt von der Spannung der letzten Stunde, oder brannte in ihnen schon wieder das Feuer eines mutigen Mannes, der sich sein Leben lang weigerte, um den Beifall der Mehrheit zu buhlen?
    Regina trennte sich von den Hüttenfeuern und den dunklen Silhouetten der Bäume. Sie leckte ihre Lippen feucht, hatte sie doch sehr früh gelernt, auch nach
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