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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Kapitel 1: Der Stepptanz und
»Die Geliebte des französischen Leutnants«
    Die sichelförmigen Absatzeisen, deren unermüdliches und unüberhörbares Klappern auf den Straßen von Dolina Ró ż erst in den langen und schneereichen Wintern fast gänzlich zum Verstummen kam, waren bei Herrn Lupicki, dem einzigen Schuster des Städtchens, der Verkaufsschlager. Damit würde Herr Lupicki zwar nie reich werden, und das wusste er, der seinen Beruf seit mehr als vierzig Jahren ausübte, wohl am besten, doch was sollte er machen. Alle Männer und Halbwüchsigen ließen bei ihm ihre Schuhe regelmäßig mit diesen hauchdünnen Absatzeisen veredeln. Sechs Nägel reichten, um die halbmondartigen und etwa sieben Zentimeter langen Eisen aufzuschlagen, und schon war selbst der letzte Armleuchter ein gemachter Mann. Keiner der Männer und heranwachsenden Jungen mochte auf das metallische Klappern auf den Bürgersteigen und Straßen – den hörbaren Beweis für die Männlichkeit oder Gerissenheit eines Kerls – verzichten. Ja, selbst die Pfarrer, die Milizionäre und Barteks Lehrer griffen zu diesem altbewährten Köder, der alte Weiber, widerspenstige Töchter und begehrenswerte Schülerinnen vom Gymnasium oder von der Nähschule davon überzeugen sollte, dass sie es nicht mit irgendwelchen Angsthasen und dahergelaufenen Hunden zu tun hätten, sondern vielmehr mit echten Helden, die zu jedem Schritt bereit seien − buchstäblich. Und den zahlreichen Mitbewerbern wurde signalisiert, sich warm anzuziehen, denn je lauter das metallische Klappern, dieser tägliche chaotische Stepptanz von Dolina Ró ż , war, desto wichtiger kamen sich die Träger der durch Herrn Lupicki persönlich aufgerüsteten Schuhe vor.
    An diesem Stepptanz im Städtchen fand auch Bartek großen Gefallen, obwohl er erst fünfzehn Jahre alt war. Sein wichtigster Feind Schtschurek − die Ratte − ging sogar so weit, dass er sich selbst seine Turnschuhe mit Eisen, die er im Übrigen ständig verlor, beschlagen ließ. Doch jeder wusste, dass Schtschurek ein Idiot war und nur eines im Sinn hatte: solchen Muttersöhnchen, wie seiner Meinung nach Bartek eines war, bei passender Gelegenheit die Nase zu polieren. Schtschurek hasste Kinder, deren Mütter beliebte, hübsche und schwarzhaarige Lehrerinnen waren, da seine eigene Mutter, die an der Flasche hing, nicht einmal für knauserige Freier vom Lande ein Objekt der Begierde darstellte. Schtschureks Vater war zudem Totengräber, und man erzählte sich in der Werkstatt von Herrn Lupicki, dass der Totengräber Biurkowski ein mieser betrügerischer Grabhändler sei. Er würde nämlich die besten Liegeplätze des alten Friedhofs an der Luna für teures Geld an die Reichen verhökern, und die Armen hätten wieder einmal das Nachsehen und müssten ihre Angehörigen an den Randzonen bestatten, wo man noch hier und da alte Gräber mit Skelettresten und Schädeln aus deutschen Zeiten vermutete oder gar zu erkennen glaubte. Die von Efeu, Sträuchern und Gräsern überwucherten Gräber ähnelten riesigen Ameisenhaufen. Herr Lupicki sagte bloß: »Was ärgert ihr euch über dieses Stinktier Biurkowski! Ihr würdet an seiner Stelle genauso handeln! Der Gute will mit seiner Familie doch auch nur überleben!«
    Jedenfalls versuchte Bartek, seinem größten Feind aus dem Weg zu gehen, nicht deshalb etwa, weil er dessen Arschtritte fürchtete. Nein, Schtschurek tat ihm sogar leid, zumal das Gesicht seines Erzfeinds tatsächlich der spitzen Schnauze einer ausgehungerten Ratte ähnelte. Diese Schnauze war der wahre Grund für Barteks Fluchten vor Schtschureks Verfolgungsjagden. Barteks Opa Monte Cassino väterlicherseits, der mit zwei Beinstümpfen im Rollstuhl saß, weil ihm im Krieg die Beine amputiert worden waren, und der in der Werkstatt von Herrn Lupicki als Aushilfe arbeitete, hatte nämlich seinen Enkel schon mehrmals gewarnt, Schtschurek nicht ins Gesicht zu sehen, vor allem nicht in seine Augen, denn das Böse sei eine Krankheit, die sich durch direkten Blickkontakt automatisch vermehren würde. Er wisse, wovon er spreche, so Opa Monte Cassino, er habe schließlich den Krieg an allen denkbaren Fronten mitgemacht – von Monte Cassino bis nach Afrika. Böse Augen seien stärker als die eines Normalsterblichen, mahnte er seinen Enkel, wenn dieser wieder einmal in die Fänge Schtschureks geraten war, und selbst Heilige zögen den Kürzeren, wenn sie von Angesicht zu Angesicht vor einem Bösewicht stünden.
    Da Bartek nach der
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