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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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Mittwoch, 27. Juni 2007,
Glenrothes
    D ie junge Frau schritt durch den Empfangsbereich, und das rhythmische Klacken ihrer niedrigen Absätze auf dem Kunststoffboden wurde vom Geräusch der vielen anderen vorbeieilenden Füße übertönt. Sie sah aus wie jemand, der eine wichtige Mission hat, dachte der Beamte in Zivil, als sie auf seinen Schreibtisch zukam. Aber eigentlich war das ja bei den meisten so. Die ganzen Poster an den Wänden, auf denen Hinweise zur Verbrechensverhütung und allerlei weitere Informationen standen, erreichten diese Leute nie, wenn sie in wilder Entschlossenheit auf ihn zuschritten.
    Sie steuerte ihn mit fest aufeinandergepressten Lippen an. Sieht nicht schlecht aus, dachte er. Aber wie bei vielen der Frauen, die sich hier einfanden, war ihr Äußeres auch nicht gerade spitzenmäßig. Ein bisschen mehr Make-up wäre angebracht gewesen, um ihre leuchtend blauen Augen stärker zu betonen; und auch etwas Kleidsameres als Jeans und ein Kapuzenpullover. Dave Cruickshank setzte sein gewohntes professionelles Lächeln auf. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
    Die Frau schob den Kopf leicht zurück, als wolle sie sich verteidigen. »Ich möchte jemanden als vermisst melden.«
    Dave versuchte, sich seine Müdigkeit und Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Wenn nicht bitterböse Nachbarn, dann waren es sogenannte Vermisste. Die Frau war für ein verschwundenes Kleinkind zu gelassen und für einen weggelaufenen Teenager zu jung. Bestimmt ging es um einen Streit mit ihrem Freund. Oder um einen senilen Opa, der ausgebrochen war. Also eine verflixte Zeitverschwendung – wie üblich. Er zog einen Block mit Formularen über den Schaltertisch zu sich heran, bis er akkurat und gerade vor ihm lag, und griff nach einem Füller. Aber er nahm dessen Kappe noch nicht ab. Es gab eine Schlüsselfrage, die beantwortet werden musste, bevor er Einzelheiten notieren würde. »Und wie lange ist diese Person schon verschwunden?«
    »Zweiundzwanzig Jahre und sechs Monate. Genau genommen seit Freitag, dem vierzehnten Dezember 1984.« Sie streckte das Kinn vor, und Entrüstung verdüsterte ihre Gesichtszüge. »Ist das lang genug, um es ernst nehmen zu können?«
     
    Detective Sergeant Phil Parhatka sah sich den Videobeitrag auf seinem Computermonitor zu Ende an, dann schloss er das Fenster. »Ich sag dir«, begann er, »wenn es überhaupt jemals eine günstige Zeit gegeben hat, um an ungelösten Fällen zu arbeiten, dann jetzt.«
    Detective Inspector Karen Pirie hob den Blick kaum von der Akte, die sie gerade auf den neuesten Stand brachte. »Wieso?«
    »Ist doch klar. Wir sind mitten im Krieg gegen den Terrorismus. Und ich habe mir gerade angesehen, wie mein Abgeordneter aus unserem Wahlkreis mit seiner Frau in die Downing Street 10 eingezogen ist.« Er sprang auf und ging zu dem kleinen Kühlschrank hinüber, der auf einem Aktenschrank stand. »Womit würdest du dich lieber beschäftigen? Alte ungelöste Fälle aufklären und dafür eine gute Presse bekommen oder Islamisten daran hindern, mitten in deinem Revier eine Bombe zu legen?«
    »Du meinst, weil Gordon Brown jetzt Premierminister ist, wird Fife zur Zielscheibe werden?« Karen legte den Zeigefinger auf die Stelle in der Akte, wo sie stehengeblieben war, und hörte Phil nun aufmerksam zu. Es dämmerte ihr, dass sie sich zu lange mit der Vergangenheit beschäftigt hatte, um die gegenwärtigen Eventualitäten beurteilen zu können. »Als Tony Blair an der Macht war, haben sie sich doch auch nie um seinen Wahlkreis gekümmert.«
    »Das stimmt allerdings.« Phil schaute in den Kühlschrank und schwankte zwischen einem Irn Bru und einem Vimto. Vierunddreißig Jahre war er alt und konnte sich immer noch nicht die Getränke abgewöhnen, die in seiner Kindheit das Größte gewesen waren. »Aber diese Typen nennen sich islamische Kämpfer, und Gordon ist ein Pfarrerssohn. Ich möchte ungern in den Schuhen des Polizeipräsidenten stecken, wenn sie sich vornehmen, ein Exempel zu statuieren, und die alte Kirche seines Vaters in die Luft sprengen.« Er entschied sich für das Vimto. Karen schüttelte sich.
    »Ich verstehe nicht, wie du das Zeug trinken kannst«, sagte sie. »Hast du noch nie bemerkt, dass es praktisch ein Brechmittel ist?«
    Phil nahm auf dem Weg zu seinem Schreibtisch einen großen Schluck. »Lässt Haare auf der Brust wachsen«, erwiderte er.
    »Dann nimm doch gleich zwei Dosen.« Karen klang gereizt und etwas neidisch. Phil schien sich von
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