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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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sein Herz vor allem dann höher, wenn er sein Portemonnaie mit Geldscheinen füllen konnte. Mit anderen Worten: Er war der geborene Geschäftsmann und ein ziemlich abgefeimter Typ.
    »Wir sind Fallschirmjäger und Ninjas«, antwortete Bartek. »Wir passen uns stets der Landschaft und dem Wetter an, und man kann uns nicht fangen. Zumindest sind wir beim Zigarettenrauchen oder Biertrinken noch nie von einem Lehrer erwischt worden, nicht einmal von unseren Alten. Wir sind schnell und zielstrebig. Sprinter eben. Unsere ›Gangart‹ ist die ›der Sprinter und Ninjas‹! Oder, was du nicht gerne hören magst, ›die der Schusterkinder‹!«
    Anton freute sich jedes Mal über diese Beschreibung. Es war ihm wohl nicht klar, wie wenig ihn mit seinem Freund Bartek verband, der im Geldhorten keinen Eifer entwickelte. Ja, eigentlich sahen sie sich zwar jeden Tag, aber nur deshalb, weil sie am frühen Morgen zusammen zur Schule gingen und nach dem Schulunterricht gemeinsam den Rückweg antraten. Sie wohnten an zwei gegenüberliegenden Enden des Städtchens. Bartek war 1974 von Oma Olcia zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder Quecksilber in das neue Plattenbauquartier an der Luna gezogen, während Anton schon seit einer Ewigkeit in einer Villa in der Karol-Marks-Straße residierte: Die Reihenhäuser und Villen der Karol-Marks-Straße bewohnten Neureiche, Ärzte und Fabrikdirektoren − hier lebte die Elite von Dolina Ró ż , zu der auch Antons Eltern gehörten. Doch das Wenige, das Bartek und Anton verband, war unzerstörbar.
    Die beiden Jungen schafften es also, jeden Tag im Kreis einen kilometerlangen Fußmarsch zu bewältigen. Anton holte seinen Freund morgens um halb acht vor dem Kino Zryw ab, dann marschierten sie durch die Altstadt, und später überquerten sie das Flusstal der Luna, um zum Bahnhof zu gelangen. Dort gingen sie durch die Eisenbahnunterführung weiter, den muffigen Tunnel, dann über die Schrebergartenanlage in Richtung des Stadtwaldes, in dessen Nachbarschaft sich die ehemaligen Kasernengebäude der Wehrmacht befanden.
    Auf dem Rückweg passierten sie zunächst den alten Friedhof, der gegenüber der Molkerei und dem städtischen Baggersee lag und den man von der Rückseite durch eine aufgebrochene Öffnung im Betonzaun betreten konnte. Diesen inoffiziellen Eingang benutzten alle Bewohner von Dolina Ró ż , auch diejenigen, die streng katholisch waren und sich bei jedem unflätigen Wort bekreuzigten.
    Auf dem Friedhof verwickelten sich die beiden Jungen kein einziges Mal in hitzige Debatten über das Leben nach dem Tod, worüber Bartek später, als er älter war, gewaltig staunen musste. Sie ignorierten die Verstorbenen, auch wenn sie manchmal vor einem Grab stehen blieben, um herauszufinden, ob sie den Toten persönlich gekannt hatten. »Warum liegen sie hier, all diese Menschen?«, fragte Bartek immer, aber sein Freund zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Ich weiß es nicht! Ich habe lediglich eine Bitte an dich: Auf meiner Beerdigung möchte ich dich nicht dabei haben! Der alte Biurkowski, dieses Stinktier, soll mir meine Musik spielen, am besten meine Lieblingsbands, Lombard und Bajm, oder die LP ›The Dark Side of the Moon‹, damit ich glücklich einschlafen kann!«
    Vom Friedhof aus führte der Nachhauseweg am städtischen Baggersee vorbei, an dessen Ufern Lagerhallen für Segelboote standen. Dort palaverten sie lange mit Antons Opa, der sich in den Kopf gesetzt hatte, eine perfekte Yacht zu bauen, die auf den masurischen Seen jedem Gewitter und Sturm trotzen sollte. Der alte Mann baute an dieser Yacht schon seit zehn Jahren, und sie ähnelte mehr einem U -Boot als einem wunderbaren Segelgeschoss mit einer Kabine und zwei Masten.
    Bei Antons Opa tranken sie ein Bier und rauchten wieder eine Zigarette, bevor sie in die Karol-Marks-Straße gingen. In dieser Straße legten sie meistens eine kurze Pause ein und klingelten bei Antons Nachbar Romek. Anton begleitete Bartek normalerweise bis zum Kino Zryw . Dieses Ritual wiederholte sich jeden Tag, und dort vor dem Kino diskutierten sie gerne noch ein halbes Stündchen über die sieben Gangarten von Dolina Ró ż oder über die verheerende Wirkung der sowjetischen Atomwaffen, die angeblich die stärksten der Welt waren. Oft jedoch schaute Anton zusammen mit Bartek in der Schusterwerkstatt für ein kurzes herzliches »Hallo!« und »Wie geht’s, Herr Lupicki?« vorbei. Erst nach dieser Stippvisite bekam Barteks Begleiter Sehnsucht nach seinem
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