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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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viele Fensterscheiben zu Bruch gegangen, wahrscheinlich von der Druckwelle der Explosion. Die LKW -Fahrer wurden auf Bahren weggetragen und in Eile mit den Krankenwagen weggefahren. Die Miliz hatte alle Hände voll zu tun, schließlich war der Unfall mehr oder weniger vor ihrer eigenen Nase passiert − das Revier befand sich nur wenige hundert Meter entfernt vom Unfallort. Schtschurek mussten die Milizionäre zur Abschreckung Handschellen anlegen, da er mit seinem hysterischen Geschrei für einen höllischen Lärm sorgte. »Leute! Höret die Geschichte: Brennende Kühe, brennende Kühe sind in Dolina Ró ż vom Himmel gefallen!«, schrie er. Man sah den Milizionären an, dass sie ihn am liebsten einbuchten würden. Schtschurek wartete jeden Tag auf den Weltuntergang und begriff nicht, dass dieser längst stattgefunden hatte, dass das Weltende im Grunde genommen jeden Tag von neuem anfing, wie es der junge Pfarrer J ę drusik in der Kirche lehrte, der kürzlich strafversetzt worden war, auch wegen seiner fanatischen Liebe zum Hard- und Bombastrock (in seiner Schallplattensammlung, die Bartek schon einige Male bestaunt hatte, war für jeden Fan der progressiven Rock-Szene etwas dabei, von King Crimson bis Yes).
    Irgendwann, Bartek hatte auf seine Armbanduhr schon seit langem keinen prüfenden Blick mehr geworfen, ertönten freudig Ministrantenglocken, und Bartek wusste, dass nun der Sohn von Herrn Lupicki herbeigeeilt kam, um sich die Brand- und Verkehrskatastrophe anzusehen. Die teilweise bis aufs Fleisch, am Rücken und an den Beinen bis auf die Knochen verbrannten Kühe lagen reglos im Schneematsch der Warschauer Straße, die einmal, so Opa Monte Cassino, den Namen Adolf Hitlers getragen hatte. Die toten Tiere, deren Mäuler schmerzvoll verzerrt waren, lagen in blutigen Pfützen, und die Feuerwehrleute deckten die Kadaver mit Planen zu. Und da bemerkte Marcin: »Schusterkind! Schau! Ein paar Viecher haben den Zusammenprall und die Explosion überlebt!« In dem Moment, als Bartek sich umdrehte, baute sich Norbert vor ihm auf und rief aus vollem Hals: »Franzos! Franzos!«
    Bartek riss dem Sohn von Herrn Lupicki die Ministrantenglocken aus der Hand, weil ihn das aggressive Läuten taub machte, und fragte: »Was für ein Franzose? Was redest du da? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?« − »Feuer großes, Feuer großes!« Norbert überreichte ihm einen zusammengeknüllten Zettel, Bartek entfaltete das Papier und erkannte sofort die krakelige Handschrift von Herrn Lupicki: »Mein Sohn! Komm sofort in meine Werkstatt! Du hast Besuch! Dein Opa Franzose ist wieder da!«
    Bartek gab dem Buckligen seine Ministrantenglocken zurück und stieß einen Freudenschrei aus: »Juhu!« Niemand wusste, warum er sich so freute, niemand beachtete ihn. Er hatte seinen Opa seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Als der Franzose das letzte Mal in Dolina Ró ż weilte, war Bartek noch ein Kind, aber jetzt, mit fünfzehn, würde ihn sein Opa nicht wiedererkennen, und bei dem Gedanken spürte Bartek entlang der Wirbelsäule eine Kälte aufsteigen, eine Erregtheit, die sogleich auch sein Herz erfasste. Er konnte sich nun seinen Opa als jungen Mann vorstellen, der sogar ein paar arme Kühe hatte sterben sehen wie im Krieg. Ja, und er hatte eine große Liebe gefunden, von der er ihm so schnell wie möglich einen vollständigen Bericht erstatten wollte. Und er erinnerte sich daran, was ihm der Opa Franzose zum Abschied vor fünf Jahren lachend gesagt hatte: »Mein Junge! An dem Tag, an dem du meine Rückkehr nicht mehr erwarten wirst, komme ich zu dir zurück! Einige traurige und lange Lenze werden ins Land ziehen! Haha! Und du wirst dann groß sein!«

Kapitel 3: Die Hure, das Café Wenecja und die quälenden Gedanken von Quasimodo
    Bartek verabschiedete sich von seinen Freunden und ging zusammen mit Norbert los: Der Opa Franzose wartete auf sie in der Werkstatt von Herrn Lupicki, doch bestimmt nicht lange, da er ein ungeduldiger Mensch war, ständig neue Ideen bekam und neue Pläne schmiedete, und daher mussten sie sich beeilen. Es fing wieder an zu schneien, als sie auf dem Weg zu Herrn Lupicki das Kino Zryw erreichten, das Bartek mindestens einmal in der Woche besuchte (meist allein, da er es nicht mochte, wenn Marcin oder Anton den Film während der Aufführung kommentierten).
    In unmittelbarer Nähe des Kinos Zryw befand sich das kleine Café Wenecja , von dem aus man einen Panoramablick auf das Städtchen genießen konnte. Deshalb
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