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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Zuhause und Nachbar Romek, der wiederum am liebsten die Rolle eines Eremiten und beleidigten Eigenbrötlers spielte. Romek war ebenfalls fünfzehn Jahre alt, wie Bartek und Anton, doch da er das Gymnasium besuchte und seine Eltern es sich leisten konnten, ihm Schallplatten und Jeanshosen aus dem Westen zu kaufen, hielt er sich für einen Mann von Welt. Er las Julio Cortázar und hörte Frank Zappa und Joy Division. Bartek gefiel an Romek nur eines: dass der den Besser- und Alleswisser Marcin für einen Scharlatan hielt. Bartek glaubte dennoch nicht daran, dass Marcin eine echte Revolution plante.
    An diesem letzten Schulappellmontag im November standen Bartek und sein Freund lange Zeit vor der Haustür Romeks, der ihnen nicht öffnen wollte, obwohl er um die Mittagszeit immer zu Hause war. Sie dachten, dass ihr menschenscheuer Kumpel wahrscheinlich wieder einmal in seinen Elfenbeinturm geflohen war, um sich vor der Welt zu verstecken: Auf dem Dachboden, wo er Bücher las und Musik hörte, erstreckte sich nämlich sein kleines Reich, das eines Eremiten und beleidigten Eigenbrötlers.
    Bartek und Anton versuchten nicht einmal, Romek anzurufen, um ihn aus seinem Versteck herauszulocken, indem sie versprachen, ihm eine Verabredung mit Mariola zu organisieren – für eine ganze Nacht! In der Tat, die Krankenschwester war die schönste Frau ihres im Winterschlaf versunkenen Städtchens. Bartek ertappte sich ab und zu bei der Vorstellung, wie er Mariola in der sogenannten Totenkammer, in der alte und von Herrn Lupickis Kunden vergessene und nicht abgeholte Schuhe lagerten, ausziehen und zum Sofa zerren würde, um sie zwischen den Beinen zu küssen. Es war dies für ihn eine merkwürdige Vorstellung, da er doch schließlich Meryl Streep liebte und ihr treu sein wollte. Und Mariola, die von einem ganz gewöhnlichen Mann mit einer langen Tatarennase und von einer ganz gewöhnlichen Frau mit viel zu kurzen Beinen und viel zu großen Brüsten gezeugt wurde, hatte sich aus unerklärlichen Gründen in diese abgelegene, von den großen Nationen schon oft verspottete und verlachte Gegend verirrt − so schien es den meisten Männern und Jungen, die in Herrn Lupickis Tochter und ihren verführerischen Körper verliebt waren und behaupteten, diese Schönheit hätte einen besseren Ort zum Leben und bessere Eltern verdient. Mariolas Seele musste völlig betrunken gewesen sein, als sie in diesen begehrenswert weißhäutigen und nach Kartoffelrosen duftenden Körper hineinschlüpfte, um irdische Freuden zu genießen, dachten die Jungen. Doch vielleicht waren auch die Ärzte des Johanniter-Krankenhauses daran schuld, dass Mariolas Seele nach Dolina Ró ż und nicht in eine berühmte Metropole geschickt wurde, in der es von Diven und Primadonnen nur so wimmelte. Denn im Johanniter-Krankenhaus, erzählte Herr Lupicki, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte, seien alle Ärzte vom Teufel der Verantwortungslosigkeit und des Leichtsinns besessen. Bei Mariola − und Herr Lupicki schäumte vor Wut, kam er wieder einmal auf ihre Geburt zu sprechen −, hätte Doktor Soko ł owski einen schlimmen und folgenträchtigen Fehler begangen. »Verdammt! Er hat sie viel zu früh aus dem Bauch ihrer Mutter rausgeholt! Viel zu früh! Das Mädchen ist nur deshalb so hitzköpfig und heißblütig, weil es in Eile geboren wurde. Und diese verdorbene, in seinem Schoß brennende Hitze bringt die Männer um ihren Verstand!«, sagte er dann. Bei der Geburt seines Sohnes Norbert hätte Doktor Soko ł owski hingegen sofort den Kaiserschnitt anordnen müssen, ärgerte sich der alte Schuster, dann wäre der arme Junge gesund auf die Welt gekommen, ohne Gehirnschäden, die er sich aufgrund der mangelnden Sauerstoffzufuhr zugezogen hatte – und auch die Mutter hätte nicht sterben müssen, wenn der Doktor sofort zum Skalpell gegriffen hätte.
    Norbert hatte viel Zeit im Geburtskanal seiner Mutter verbracht − eine kostbare Zeit, die er nie aufholen sollte; sein überdimensionaler Wasserkopf hatte sich gegen die irdische Welt erfolgreich gewehrt. Das Baby sei am ganzen Körper vollkommen violett angelaufen gewesen, als man es schließlich doch noch aus dem Würgegriff des Geburtskanals der Mutter habe befreien können, und zwar mit einer riesigen Zange, erzählte eine Krankenschwester später dem besorgten Vater.
    Ja, Norberts Mutter, eine waschechte Masurin, hatte man nicht mehr retten können, sie verblutete und starb, und Herr Lupicki heiratete nach einem
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