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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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befanden. In fast jeder Pause kamen die Lehrer des Technikums herbeigerannt, um die rauchenden Schülerhorden auseinanderzutreiben, und dann flohen die jungen Raucher in den Stadtwald, in dem es in der Nähe des berühmten Teufelsbergs viele Verstecke gab und sogar ein Goethe-Denkmal, das die Ostpreußen vor langer Zeit errichtet hatten. Diejenigen Schüler, die sich erwischen ließen, mussten mit einer schlechten Note für ihr soziales Verhalten rechnen, die sie jedoch wenig bekümmerte.
    »Schusterkind«, sagte Anton. »Wann gehst du wieder zu Marcin, um Musik zu hören und den nächsten Kurs in Philosophie zu belegen? Ich würde gerne einmal zu ihm mitkommen! Angeblich plant er ein Attentat …«
    »… er plant gar nichts!«, unterbrach Bartek seinen Freund. »Wozu sollte er an ein Attentat denken, wenn er sowieso nach dem Abi abhauen will, und zwar nach Amerika?!«
    Bartek mochte es nicht, wenn ihn seine Freunde Schusterkind nannten. Sie neckten ihn mit diesem grässlichen Wort, das sich in seinen Ohren so anhörte, als hätte er kein Zuhause. Allerdings war das gar nicht unbedingt falsch. Er hasste sein Zuhause, konnte sich das aber nicht eingestehen. Am wohlsten fühlte er sich in der Werkstatt von Herrn Lupicki. Bei ihm bekam man immer einen Teller heißer Erbsen- oder Kartoffelsuppe, ein Glas schwarzen Tee oder einen Schnaps, den vor allem Barteks Vater und Onkel zu sich nahmen, die drei blonden und blauäugigen Schwager, die Ehemänner von Oma Olcias schwarzhaarigen und dunkelbraunäugigen Töchtern. Schon am frühen Morgen, wenn Herr Lupicki seine Schusterwerkstatt öffnete, kamen die ersten Durstigen und Hungrigen, tranken einen Schnaps und aßen ein Stück Schweinespeck mit Brot, bevor sie weitergingen, jeder zu seinem Büro, zu seiner Fabrik. Große Strecken legte man in Dolina Ró ż zu Fuß zurück, da so gut wie niemand ein Auto besaß, und mit dem Fahrrad zu fahren, kam keinem in den Sinn, da man Fahrräder nur Erstkommunionskindern schenkte. Und so marschierten die Frauen, Männer und Kinder von Dolina Ró ż jeden Morgen zu ihren Schulen, Fabriken und Büros, um am späten Nachmittag wieder auf die Straße zurückzukehren, wo sie dann in den Schlangen vor den Lebensmittelläden stundenlang ausharren mussten, um Seife, Toilettenpapier und schlesische Wurst zu ergattern. Oder sie gönnten sich bei Herrn Lupicki eine kurze Pause, palaverten mit den Schustern und beklagten sich über ihre Ehepartner und Sprösslinge, aber auch über die Regierung und die Inflation. Im Winter begann ihr Tag im dunkelgrauen Licht des Schnees und des frostigen Himmels und endete im abendlichen, ein wenig rötlich schimmernden Dämmer. Bartek kam es so vor, als würde er von November bis Ende Januar am Nordpol wohnen, wo seit Tausenden von Jahren – seit der Sintflut quasi − die längste Nacht der Menschheit herrschte. Er liebte es, zusammen mit Anton und Marcin an einer Straßenecke herumzulungern und zu beobachten, wie die Bewohner ihres Städtchens von einem Termin zum nächsten eilten und kilometerlange Entfernungen zurücklegten – womit gesichert war, dass Herr Lupicki nie arbeitslos werden würde. Dabei studierten das Schusterkind und seine Kumpels die verschiedenen Gangarten: die Monty-Python-Sketche hatten sie auf diese Idee gebracht.
    Die Schul- und Fabrikdirektoren stolzierten mit ausgestreckter Brust und voller Stolz auf ihren verantwortungsvollen Beruf. Manchmal setzten sie Sonnenbrillen auf, um dem direkten Blick eines Passanten zu entfliehen, und gleichzeitig versuchten sie, so zu tun, als wäre ihnen jedes zufällige Gespräch, jede zufällige Begegnung auf der Straße wichtig, indem sie freundlich lächelten und Fragen beantworteten. Dieses freundliche Lächeln und Antworten deutete Bartek jedoch als Maskerade, er spürte, dass die Direktoren in Gedanken bei ihren alltäglichen Sorgen waren: Ihre eigenen Kinder brauchten dringend Hilfe in allen Lebenslagen; ihre Ehefrauen gingen fremd, und der Krebs wütete in der Verwandtschaft. Die Gangart der Schul- und Fabrikdirektoren war erhaben und selbstbewusst, sie besaß aber eine klare Schwäche: Wenn man so stolzierte durch die Straßen von Dolina Ró ż , immer in den Himmel schauend, hochnäsig und aristokratisch, konnte man leicht umknicken, sich den Fuß verstauchen oder gar gegen ein Auto laufen und unter die Räder kommen. Es war »die Gangart der Blinden«.
    Die drei blonden Schwager trugen Stiefel mit hohen breiten und schweren Gummiabsätzen,
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