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Nur Der Tod Kann Dich Retten

Titel: Nur Der Tod Kann Dich Retten
Autoren: Joy Fielding
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richtige Frage eine beruhigende Antwort bekommen würde. Schließlich gibt sie auf, sinkt auf der Pritsche in sich zusammen und weint noch eine Runde. Als sie den Kopf wieder hebt und mich zum zweiten Mal direkt ansieht, sind ihre großen blauen Augen tränenverquollen und unvorteilhaft rot gerändert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, und mein Wunsch ist Vater des Gedanken.

    Sie richtet sich wieder auf und atmet mehrmals tief durch. Sie versucht offenkundig, sich zu beruhigen, während sie ihre Lage analysiert. Sie betrachtet ihre Kleidung – ein blassgelbes T-Shirt mit dem knallgrünen Schriftzug MOVE, BITCH auf der Brust, tief und eng auf ihren schmalen Hüften sitzende Jeans. Dieselbe Garderobe, die sie... wann noch gleich getragen hat? Gestern tagsüber? Gestern Abend? Heute Morgen?
    Wie lange ist sie schon hier?
    Sie streicht sich durch ihr langes, rotblondes Haar und kratzt sich am rechten Knöchel, bevor sie sich an die Wand lehnt. Irgendein Verrückter hat sie entführt und hält sie als Geisel, denkt sie und überlegt vielleicht schon, wie sie diese Geschichte nach ihrer Flucht möglichst effektvoll erzählen kann. Vielleicht meldet sich das People -Magazin. Vielleicht sogar Hollywood. Wer wird ihren Part spielen? Das Mädchen aus Spider-Man oder vielleicht doch besser die andere, die dieser Tage ständig auf den Titelseiten der Boulevardpresse zu sehen ist. Lindsay Lohan? Heißt sie so? Oder war es Tara Reid? Cameron Diaz wäre gut, obwohl Cameron mehr als zehn Jahre älter ist als sie. Es ist im Grunde egal. Sie sind alle mehr oder weniger austauschbar. Alle zum Sterben schön.
    Und da komme ich ins Spiel. Dabei kann ich helfen.
    Die Miene des Mädchens verdüstert sich. Ein weiteres Mal dringt die Realität in ihre Gedanken ein. Was mache ich hier, fragt sie sich. Wie bin ich hierhergekommen? Warum kann ich mich nicht daran erinnern?
    Vermutlich kann sie sich daran erinnern, in der Schule gewesen zu sein, obwohl ich bezweifle, dass ihr viel von dem Unterrichtsstoff im Gedächtnis geblieben ist, wenn überhaupt etwas. Sie war mit anderen Dingen beschäftigt- starrte aus dem Fenster, flirtete mit den Neandertalern in der letzten Reihe und machte den Lehrern das Leben schwer. Immer hatte sie einen schlauen Spruch drauf, eine sarkastische Bemerkung parat oder eine ungefragte Meinung beizusteuern. An die Schulglocke zum Ende des Unterrichts, die sie aus
dem Gefängnis ihrer zwölften Klasse befreit hat, wird sie sich garantiert erinnern, wahrscheinlich auch noch daran, auf den Schulhof gerannt und von irgendwem in der Nähe eine Zigarette geschnorrt zu haben. Vielleicht weiß sie noch, wie sie einer Klassenkameradin eine Dose Cola aus der Hand gerissen und sie ohne ein Dankeschön oder eine Entschuldigung heruntergestürzt hatte. Vielleicht erinnert sie sich sogar daran, sich auf den Heimweg gemacht zu haben – etliche Zigaretten und schnippische Kommentare später. Ich beobachte sie, während sie ihren eigenen Weg zurückverfolgt, bis zu der Ecke der ruhigen Nebenstraße, in der sie wohnt. Ich sehe, wie sie den Kopf hebt, als sie hört wie der Wind leise ihren Namen flüstert.
    Irgendjemand ruft sie.
    Das Mädchen beugt sich auf der Pritsche vor und öffnet den Mund. Die Erinnerung ist da, sie muss nur darauf zugreifen. Ihre Sinne spielen verrückt, die Erinnerung foppt sie wie die unterste Zeile einer augenärztlichen Tafel, in der die Buchstaben einem direkt vor Augen stehen, jedoch, egal wie sehr man sich anstrengt, verschwommen bleiben, sodass man sie nicht erkennen kann. Die Erinnerung liegt ihr auf der Zungenspitze wie ein exotisches Gewürz, das sie schmecken, aber nicht benennen kann. Sie weht ihr mit einem schwachen Hauch quälender Düfte um die Nase und schwappt durch ihren Mund wie ein Schluck teurer Rotwein. Wenn sie sie nur greifen und in Worte fassen könnte.
    Sie erinnert sich daran, sich umgedreht und gelauscht zu haben, ob sie im warmen Wind ein weiteres Mal ihren Namen hörte, bevor sie auf eine Reihe überwucherter Büsche in einem ungepflegten Vorgarten in der Nachbarschaft zugegangen ist. Die Büsche locken sie, die Blätter rascheln, als wollten sie sie willkommen heißen.
    Und dann nichts mehr.
    Resigniert lässt das Mädchen die Schultern sinken. Sie hat keine Erinnerung daran, was als Nächstes geschehen ist. Die
Büsche versperren ihr die Sicht, verwehren ihr den Eintritt. Sie muss das Bewusstsein verloren haben. Vielleicht wurde sie betäubt, vielleicht hat sie
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